Die letzten Tage des Herrn A.

Das muss ich zugeben, ja. Überwinden muss ich mich immer. Stehe ich vor einer Zimmertür, halte ich kurz inne. Ich straffe mich, nehme einen tiefen Atemzug, klopfe dreimal, immer dreimal, tock-tock-tock, und trete ein.

Schon als ich an jenem Montagmorgen vor rund zwei Monaten die Tür öffnete, es muss etwas vor oder nach zehn gewesen sein, sah ich ihn in seinem Spitalbett liegen. Die Hände über der Decke ineinander gefaltet, schaute er mich an – und lächelte.

Dieses Lächeln. Ich weiss, es klingt furchtbar pathetisch, aber es erinnerte mich wirklich an einen Engel. Auf dem Tisch beim Fenster standen viele Blumensträusse. Ich stellte mich vor, wie ich mich immer vorstelle, Brülisauer, von der Spitalseelsorge, grüezi, und fragte ihn, ob ich ihm einen Besuch abstatten dürfe.

An zwei Tagen in der Woche arbeite ich für das KSW in der Spitalvorsorge, mache an einem solchen Tag zwischen sechs und zehn solcher Besuche, in der Regel auf der Palliativstation, wo es nicht mehr ums Heilen geht, nur noch darum, das Ende eines Lebens zu gestalten. Nach drei Besuchen, immer nach dreien, brauche ich etwas Zeit für mich. Ich gehe dann in die Spitalkapelle, wo ich drei Kerzen anzünde und für die drei Menschen bete, die ich besucht habe. Ich spreche zu Gott, bitte ihn, er möge ihnen die Angst vor dem Tod nehmen, sie gut nach Hause begleiten. Amen.

Nicht immer freuen sich die Menschen über meinen Besuch, nicht alle können etwas mit Religion, mit Gott anfangen. Ich versuche das nicht persönlich zu nehmen. Wegschicken tun mich zum Glück nur wenige. Aber an fast jedem Arbeitstag gibt es Patientinnen und Patienten, wo ich merke, oh, das passt jetzt nicht.

Sie geben mir ganz kurze, einsilbige Antworten. Frage ich, wie es ihnen geht, sagen sie nur «gut». Allzu schnell abwimmeln lasse ich mich dann aber nicht. Denn manchmal lohnt es sich auszuharren. Manchmal ergeben sich doch noch, und ganz wider Erwarten, gute Gespräche.  Antworten sie aber nach fünf Minuten noch immer nur mit «ja» oder «nein», verabschiede ich mich freundlich und gehe. Ich will niemanden zu etwas zwingen. Ich will mich nicht aufdrängen.

Doch dieses Mal, ich hatte wohl noch kaum auf dem Stuhl am Bett Platz genommen, war es mir schnell klar: Das wird ein schönes Gespräch werden. Draussen vor seinem Fenster bewegten sich die Baumkronen im Wind. Und ich fragte ihn, wieso er hier sei. Er antworte mir in gebrochenem Deutsch, dass er Darmkrebs habe. Und ergänzte in sachlichem Tonfall – als hätte er gerade festgestellt, dass es keine Milch im Kühlschrank mehr gibt: «Ich sterbe bald.»

Lange genug habe er gelebt, sagte er, lange genug sei er in die Dialyse gegangen, sagte er. Während Jahren habe er sich wöchentlich an diesen Apparat mit den vielen Schläuchen anhängen lassen. Doch jetzt sei es genug. Er – Herr A. heisse er übrigens – habe sich entschieden, damit aufzuhören, er habe entschieden, mit allem aufzuhören. «Ich will gehen.»

Aus den Boxen des Flatscreens an der Wand war leise Musik zu hören. Ich fragte ihn, ob ihm das Sorge machen würde, das Gehen, das Loslassen vom Leben? Die meisten beginnen mir dann von ihren Kindern zu erzählen, von der Partnerin, von den Menschen, die sie zurücklassen. Viele sind sich reuig, in ihrem Leben nicht mehr Zeit mit ihren Liebsten verbracht zu haben. Viele sprechen über die Natur, über Waldspaziergänge, die sie gerne noch ein letztes Mal gemacht hätten. Und vor allem ältere Menschen plagt am Schluss oft eine bange Frage: «Komme ich in den Himmel?» Ich frage diese Menschen dann, wieso sie nicht in den Himmel kommen sollten. Und erzähle ihnen von Gott, wie ich ihn sehe, von Gott, dem Barmherzigen, der uns alle liebt, uns alle gernhat. Ich sage ihnen dann, dass Jesus für mich so etwas wie ein Therapeut sei, einer, der zuhört, versteht und Schritt für Schritt heilt. Auch wenn er für Gerechtigkeit sorgt, ist er kein Richter, dieser Jesus, dazu hat der doch keine Lust. Jesus straft nicht, er führt uns vor Augen. Er geht auf unser Handeln ein. Und hilft uns, wiedergutzumachen.

Nun, Herrn A. schien das alles keine Sorgen zu bereiten. Er war, so schien es, mit sich und der Welt im Reinen. Er war fröhlich! Und so kam es, dass ich mit ihm nicht über das Sterben sprach, auch fragte er nicht, was die Anderen fragen, zum Beispiel: «Herr Brülisauer, wie sieht der Himmel eigentlich aus?» Ich brauchte also nicht zu antworten, was ich darauf antworten würde, nämlich mit einer Gegenfrage: «Wie wünschen Sie denn, gute Frau, guter Herr, dass der Himmel aussieht?» Nein, Herr A. schienen all diese Fragen nicht zu beschäftigen.

Wir sprachen über Gemüse und über Blumen. Er hatte einen Schrebergarten. Im Frühling und im Sommer verbrachte er, so gewann ich den Eindruck, fast die ganze Zeit über dort. Er kümmerte sich um das Gemüse, seine Frau um die Blumen. Ein vergnügtes Gespräch über das satte Rot der Tomaten war es, über den Regen und die Sonne. Drei Wochen später starb er. Und just nach seiner Beerdigung, glauben Sie es mir oder nicht, Sie können es ruhig pathetisch finden, erschien uns am Himmel – ein Regenbogen.

Spitalseelsorger Andreas erzählt von Dreifaltigkeiten, vom Himmel über uns, von den letzten Tagen im Leben des Herrn A.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.