Wisst ihr noch?

Wisst ihr noch, wie einmal auf der Rückfahrt, es war gleich geschafft, gleich würden wir endlich zu Hause sein, wie plötzlich mitten im Fahren der Motor ausging? Die Kontrollleuchte blinkte, die Warnlampe blinkte, alles blinkte, wir schafften es gerade noch die nächste Ausfahrt herunterzurollen, leicht bergab ging es, wo glücklicherweise am Ende eine Tankstelle war, die glücklicherweise noch geöffnet hatte, wo glücklicherweise ein Monteur gerade Feierabend machen wollte; er sah sich den Schaden an, nichts zu machen, die Karre muss in die Werkstatt, Montag kann ich mich darum kümmern jetzt ist endlich Wochenende, sagte er, irgendwas mit der Batterie könnte es sein, vielleicht was mit dem Relais, was für ein Relais? Und wir standen da mit all unserem Gepäck, kunterbunt durcheinander gewürfelt lag es eben noch im Kofferraum und auf der Rückbank und nun auf der Tankstelle, an einem heissen Sommertag war das; wen könnten wir jetzt anrufen, dass uns jemand abholt, dass wir nach Hause kommen, es ist doch Urlaubszeit, niemand von unseren Freunden ist da, lass uns mal überlegen, haben wir mittlerweile so wenig Freunde? Vielleicht Holger, unseren Nachbarn, ob wir den fragen können, meinst du, wir können ihn fragen, echt? Und Holger kam, du musst nicht kommen, wenn es nicht passt, wenn es stört, wirklich nicht, wir kommen auch so klar, zur Not, hatten wir gesagt, mehrmals, am Handy. Und er kam, und er nahm uns mit, er sammelte uns ein, uns drei und all unser Gepäck; er hatte es sich bei sich zu Hause gerade gemütlich gemacht, mit Knabbergebäck und Wein, hatte die Füsse hochgelegt, die Jalousien heruntergelassen (wegen der Sonne), die Vorberichterstattung für die Champions League stand an, mindestens Halbfinale, Arsenal gegen sonst-wen, vielleicht gegen Man-U, wenn ich es richtig erinnere, völlig falsch: das Finale! Der FC Chelsea gegen Manchester City, in Porto, Holger ist Fussballfan, besonders ist er für Italien, Hauptsache eine der Mannschaften kommt aus Italien, am besten beide, dann blüht er richtig auf, er trinkt ja auch keinen französischen Rotwein, er trinkt italienischen, wir stellen ihm immer mal wieder eine Flasche vor die Tür, wenn er sich um unsere Post kümmert und die Pflanzen giesst, wenn wir länger nicht zu Hause sind. Und er fuhr uns nach Hause, passt schon, sagte er und schaltete die Gänge, er fuhr uns, trotzdem, trotz Fussball, trotz der Champions League, die sich auf den Weg machte, Chelesa sollte gewinnen, Eins zu Null, was Holger zum Glück noch nicht weiß, die ganze Aufregung, all der Spass wäre weg, und wir hielten vor unserem Haus, er parkte ein, und wir stiegen aus, wir standen da in der jetzt milden Nachmittagssonne, wir waren doch noch nach Hause gekommen, Glück im Unglück, wisst ihr noch?

Es lief ein Champions-League-Match. Und Holger kam trotzdem.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.