In der Autowaschstrasse

Bald schon wieder werden die weichrotierenden Bürsten die Frontscheibe unseres weissen Opel Vectras massieren. Und bald schon wieder wird es dunkler und dunkler werden im Inneren unseres Autos. Das Schleppsystem wird uns, so hoffe ich jetzt, Schritt für Schritt in die Waschanlage hineinziehen. Um uns herum wird alles, so hoffe ich jetzt, weiss aufschäumen. Dann wird schliesslich Wasser auf das Autodach prasseln. Es wird sich schön anhören, wie ein Sommerregen. Und für uns Kinder wird alles gut sein.

Meine Mutter kurbelt jetzt die Scheibe hinunter und spricht mit dem Mann von der Waschstrasse. Meine Schwester und ich bangen auf der Rückbank wie immer um den Einlass. Wir versuchen dem Gespräch zwischen Erwachsenen zu folgen. Doch es gelingt uns nur einzelne Wörter aus dem Redefluss zu fischen, überwirkliche Wörter „Versiegelung“, „Aktivschaum“, „Glanztrocknung“. Meine Mutter, die den Handel mit dem Pförtner jetzt beschlossen hat, kurbelt die Fensterscheibe wieder hoch, ermahnt uns, es ihr gleichzutun, dreht ihren Kopf zu uns und sagt mit Nachdruck: „Es geht los!“

Und schon platzt der wütende Strahl aus der Wasserpistole an unseren Fensterscheiben in ein filigranes Netz an Rinnsalen auf. Der Mann, der die Pistole mit beiden Händen hält, ist hinter der allumspannenden Wasserkunst, die jetzt schon in die schönsten nur erdenklichen Formen mäandriert, nur noch als Umriss zu erkennen. Hetzt der Mann einen Wasserstrahl in den Kotflügel, dröhnt der Tag zwar noch einmal kurz schrill auf. Doch auch dieser Ton drängt bald schon nur aus weiter Ferne an unsere Kinderohren.

Dann verständigt sich meine Mutter, die spätestens jetzt für mich zur Heldin wird, mit dem Mann durch kurzes Kopfnicken. Sie startet den Motor. Sie dreht den Schlüssel im Zündschloss. Sie fährt ein, zwei Meter auf das Band. Sie stellt den Motor wieder ab und legt den Leergang ein, mit einer schnellen, entschlossenen Handbewegung. Dann löst sie die Handbremse. Dann, ja, dann erfasst uns dieser Ruck. Und es geht wirklich los. Die Welt schäumt noch ein aller-, allerletztes Mal vor unseren Kinderaugen auf. Dann wird es still im Auto.

Die Bürsten und Lappen umhüllen nach und nach das ganze Fahrzeug. Bis es schliesslich nur noch uns und unser Fahrzeug gibt. Und diese dünnen, starken Autoscheiben, die jetzt den Innenraum unseres Vectras vom Rest der Welt trennen. Einzelne Tropfen lösen sich aus den insichdrehenden Wasserwirbeln, hetzen auf den Aussenfenstern runter zum Scheibenrand, um sich dort im schwarzen Gummi zu verlieren. Alles verliert sich jetzt dort. Alles dreht sich. Alles dreht sich jetzt um uns, um meine Schwester, um mich. Um Mama.

A. erinnert sich, wie das damals war mit der Autowaschstrasse, der aufschäumenden Seife und dem Universum.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.