Die Kummerpuppe (1971)

Die 56-jährige Erzählerin erinnert sich an ihre Schwester.

Hatte ich Kummer, sprach ich zu meinen Puppen. Ich stellte sie in Reih und Glied vor mir auf, meistens auf meinem kleinen Holztisch und begann zu erzählen. Ich erzählte von Mutter, von meinen Schwestern, ich erzählte von meinem bösen Lehrer, von schlechten Schulnoten oder fiesen Mitschülern. Meine Lieblingspuppe hatte wunderschöne lange blonde Haare. Sie bedeutete alles für mich. Es war ja schliesslich auch die einzige Puppe, die ich je von meinem Vater geschenkt bekommen hatte. Dann, an einem Tag im Sommer, geschah es: Meine Schwester Beatrice kam an, frage mich ganz nett, ob sie die Puppe mal ausleihen durfte. Als ich sie ihr übergab, ging sie mit ihr in ihr Zimmer – und schnitt ihr alle Haare ab. Ich habe schrecklich geweint. Auch meine anderen Puppen machte sie nach und nach kaputt, einer stach sie das Auge aus, eine Andere schüttelte sie solange, bis sie nicht mehr sprechen konnte. Ich weiss bis heute nicht, wieso sie manchmal so fies war, zu mir und meinen Puppen. Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, frage ich sie vielleicht mal danach.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.