Die Chronologie

Nr. 1

1985, 18 Jahre.

Ich lebe bei meiner Schwester und deren Familie in unserem Elternhaus, nachdem meine Mutter entschieden hatte, nicht mehr weiterzuleben. Mein Schwager schmeisst mich raus. Ich würde den Kühlschrank zu oft plündern. Und ja, er hatte recht. Ich ziehe mit einer Freundin in eine WG. Jetzt bin ich erwachsen. Meine erste eigene Wohnung!

5 Zimmer, Attika, Miete: Fr. 1800.–

Nr. 2

1985

Nach drei Monaten können wir die Miete nicht mehr bezahlen. Warum hatte uns keiner gesagt, dass diese Miete viel zu hoch ist für Leute, die keinen festen Job haben? Ich ziehe allein in eine neue Wohnung.

1,5 Zimmer, Miete Fr. 680.–

Nr. 3

1987

Ich bin schwanger. Mein Partner und ich ziehen aufs Land. Doch eigentlich sind wir ganz viele, denn jeden Tag sind eine Menge Freunde von uns da. Das Dorf sieht sich mit einer «Hippie-Kommune» konfrontiert. Ein Skandal.

3-Zimmer-Bauernhauswohnung, Miete Fr. 450.–

Nr. 4

1995

Wir haben zwei Kinder. Und obwohl die Beziehung etwas in Schieflage ist, kauft er für uns ein Haus. Neuer Schritt – neue Chance?

5-Zimmer-Einfamilienhaus, Hypothek Fr. 530 000.–

Nr. 5

1997

Wir trennen uns. Ich ziehe aus. Die Kinder wohnen bei beiden. Ich ziehe ins Nachbardorf.

4-Zimmer-Attika in Mehrfamilienhaus, Miete Fr. 1500.–

Nr. 6

1998

Das Leben in einem Mehrfamilienhaus ist zu ätzend. Zudem wollen die Kinder zurück ins Dorf, wo ihr Vater lebt. Wegen der Nähe zu ihm. Wir ziehen mit einer Kollegin und deren beiden Kindern in eine WG. Wir Frauen findens super. Die Kinder schrecklich.

6-Zimmer-Einfamilienhaus, Miete Fr. 1600.–

Nr. 7

2000

Der Vermieter meldet Eigenbedarf. Wir müssen raus. Die Kinder jubeln. Wir bleiben im selben Dorf. Wegen der Nähe zum Vater. Ich renoviere das Haus, bevor wir einziehen.

4-Zimmer-Hexenhaus, Miete Fr. 1500.–

Nr. 8

2004

Ich habe einen neuen Partner und noch ein Kind mehr. Der Vermieter meldet Eigenbedarf. Wir bleiben im selben Dorf. Sie vermuten es: Die Nähe zum Vater der beiden Grossen.

5-Zimmer-Parterre-Einfamilienhaus mit 1-Zimmer-Studio, Miete Fr. 1800.–

Nr. 9

2010

Wir haben ein zweites Kind, insgesamt sind es jetzt vier. Der Vermieter will das Haus verkaufen. Mein Sohn ist mittlerweile über 20 und zieht aus. Die Eltern meines Partners bauen ihr Haus in zwei Wohnungen um. Nach 21 Jahren verlassen wir das Dorf. Und die Nähe zum Vater. Wir ziehen nochmal aufs Land.

5,5-Zimmer-Parterre-Eigentumswohnung, Hypozins Fr. 890 000.–

Nr. 10

2015

Trennung. Die beiden jüngeren Kinder leben bei beiden. Meine ältere Tochter zieht zum Freund. Ich gehe, muss aber im Dorf bleiben. Genau, die Nähe zum Vater. Das Miethaus mit 11-Meter-Indoor-Hallenbad ist ein Glücksfall, die Vermieterin mag uns. Heute ist sie eine Freundin.

5,5-Zimmer Einfamilienhaus mit Hallenbad, Miete Fr. 1500.–

Nr. 11

2018

Die Vermieterin verkauft das Haus. Die neuen Besitzer sitzen am Tisch. Sie wollen mehr Geld. Schliesslich hätte ich zu günstig gewohnt. Zu viel Geld für mich. Per Zufall finde ich ein Haus im gleichen Dorf. Gut, schon wegen der Nähe zum Vater. Die komplette Familie hilft, das alte Haus zu renovieren. Die Miete ist entsprechend niedrig.

4,5-Zimmer-Einfamilienhaus, Miete Fr. 1200.–

Nr. 12

2021

Der Vermieter will das Haus verkaufen. Als wir ausgezogen sind, wird er das Haus wieder vermieten, einfach teurer. Mir egal, ich wollte sowieso in die Stadt ziehen. Das Trampolin im Garten brauchten die Kinder längst nicht mehr. Zum ersten Mal, seit ich Kinder habe, ziehe ich in eine Stadt. Die Kinder wohnen weiter bei beiden.

4-Zimmer-Wohnung, Miete Fr. 1510.–

Nr. 13

2023

Die Heizkostenabrechnung flattert ins Haus. Dreimal so teuer wie eigentlich berechnet. Schuld ist der Gaspreis – und somit der Kriegstreiber Putin. Die Wohnung wird zu teuer. Zufällig finde ich sofort eine Wohnung direkt an der Aare. Mit zwei Balkonen und einem Lift für meinen mittlerweile alten Hund.

5,5 Zimmerwohnung, Miete 1650.–

In drei Tagen schleppen wir wieder einmal Kisten und Kästen die Treppen runter und rauf. Die Zügelcrew ist deutlich geschrumpft, alle sind wir älter geworden, hier ein Rückenleiden, da Arthrose. Mein Plan ist, mich jetzt niederzulassen, bis meine Kinder ausgezogen sind. Und falls das Leben eine andere Geschichte vorgesehen hat, schreibe ich sie einfach um. Denn wenn sie ausgezogen sind, bin ich etwa Mitte 60. Nach 40 Jahren Nomadenleben mit Kindern und alten Gitterbetten werde ich nochmal ganz alleine starten. Dann werde ich hinziehen können, wo ich will. Ohne Nähe zu irgendwelchen Vätern. Die Karten werden komplett neu gemischt. Das Nomadenleben wird weitergehn.

Dem Leben eine Geschichte geben, einen roten Faden, der alles zusammenhält, können wir anhand von Ausbildungen, anhand von Expartnern – oder eben: anhand von Umzügen. Anita steht kurz vor ihrem dreizehnten Umzug.

Anita Zulauf

Anita wurde 1967 als viertes Kind eines Schweizers und einer Österreicherin geboren. Als Quereinsteigerin in den Journalismus schrieb sie ab 1995 für die Berner Zeitung, das Solothurner Tagblatt, die Migrationszeitung Mix, das Magazin wir eltern, das Kulturmagazin ERNST und ist Mitglied der Edition ERNST. Obwohl ihr Themenspektrum breit ist, liegt ihr Interesse primär bei Menschen, Geschichten übers Leben und Biografien. Durch die Ausbildung zur Fotografin und die Weiterbildung zur Videoproduzentin ist sie aktuell neben dem Schreiben mit dem bewegten Bild und der Fotografie beschäftigt.