Der Traum

Witzig, dass du ausgerechnet heute danach fragst. Gestern Nacht hatte ich so einen Traum. Wenn du meinen Namen nicht nennst, will ich ihn dir erzählen. Du kannst mich in deinem Text Laura nennen, Laura gefiel mir schon immer. Es ist so ein Name, der nicht viel Aufhebens macht.

Also. Es war so: Ich tanze auf einem Waldweg. Mein Vater sitzt am Wegrand zwischen den Bäumen. Ich kenne den Waldweg sehr gut, es ist der Weg meiner Kindheit, der Weg, an dem wir oft entlanggegangen sind, es war – unser Heimweg. Auch das Tanzen, du weisst das ja, ist mir etwas sehr Vertrautes, ich tanze Ballett und tanzte es schon immer.

Erst tanze ich auf diesem Waldweg einfach für mich. Mein Vater sitzt zwischen zwei Buchen allein an einem Tisch und starrt Löcher in die Luft. Dann tanze ich immer mehr für ihn. Oder besser: gegen seine Traurigkeit an. Ich tanze ihm nicht vor, ich fordere ihn heraus. Beim Tanzen sehe ich ihn an, immer länger und immer forschender. Ich sehe ihn und sehe, wie traurig er ist.

Schliesslich setze ich mich nach einem Grand Jeté zu ihm an den Tisch. Erst sitzen wir einfach so da. Dann beginnen wir zu reden, ich weiss nicht mehr, über was. Er sagt, glaube ich, dass er Knochen gefunden habe, menschliche Knochen. Wie auch immer: Ich bin froh, dass wir reden, dass er nicht schweigt.

Dann sehe ich meinen jüngeren Bruder von Weitem auf uns zukommen, er geht vergnügt, beschwingten Schrittes, ein Lachen im Gesicht. Ich stehe auf, gehe ihm ein Stück entgegen. Als er mich sieht, beschleunigt er seinen Schritt, worauf ich wiederum meinen Schritt beschleunige. Wir beginnen zu rennen und Pirouetten zu drehen, immer wilder, immer schneller. Wir tanzen um uns herum und fallen uns schliesslich in die Arme.

Dann holen wir Vater. Wir gehen gemächlich, unsere Arme ineinander verschlungen, gehen zu dritt zum Auto. Dort steht sie schon da, unsere Mutter. Sie steht da, lacht und hält uns die Türe auf. Wir sollen einsteigen. Erst will ich nicht, ich will mit dem Fahrrad fahren, in die gleiche Richtung, aber allein, ich will dem Familienauto folgen. Doch mein Fahrrad liegt neben dem Auto in einem Bach. Ich versuche es zu bergen, doch es will mir einfach nicht gelingen. Es steckt fest, tief im Morast.

Mein Vater, mein Bruder, meine Mutter und ich, alle zusammen ziehen wir daran, während uns fremde Leute an Kaffeetischen aus der Ferne dabei zuschauen. Wir ziehen so lange und mit vereinten Kräften daran, bis sich das Velo mit einem Sauggeräusch aus dem Bachboden löst. Dann packt es mein Vater in den Kofferraum. Und alle steigen wir ins Auto. Wir fahren los. Wir fahren alle zusammen nach Hause.

Ich bin, wie du weisst, schon vor zwanzig Jahren zu Hause ausgezogen, meine Eltern sind schon seit fünfzehn Jahren geschieden. Und meine Mutter ist seit zehn Jahren schon tot. Ich weiss nicht, was der Traum zu bedeuten hat. Witzig, dass du mich ausgerechnet heute danach fragst, nach dem Heimkommen.

Das ist ein Familienauto. Da ist der Bruder. Und da sind die Eltern. Man tanzt. Und ist wieder vereint. Eine Freundin erzählt von ihrem Traum.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.