Und oben war es dunkel und unten war es hell

Wäre das hier ein Theatertext, würde in kursiv stehen: Er schaut geradeaus, denkt lange nach, dann räuspert er sich und beginnt zu sprechen …

Wäre meine Frau nicht, hätte ich vermutlich nein gesagt. Hier auf der Bank einem Fremden etwas erzählen, der dann daraus eine Geschichte macht – ich weiss nicht. Aber meine Frau macht gerade eine Ausbildung, einen Fernkurs, während eines Sabbaticals: Literatur; lernen, wie man selbst Geschichten schreibt. Theorie, aber vor allem Übungen, ganz praktisch, wie: Sie bekommt fünf Worte, nur fünf – und dann muss sie aus diesen fünf Worten heraus eine Geschichte erfinden und aufschreiben. Und dann kommt sie eben manchmal zu mir, liest mir vor, was sie geschrieben hat, und fragt mich: ‹Was findest du dazu?›

Also beginne ich meine Geschichte dort, wo ich aufgewachsen bin, auf einem Bauernhof. Da war ein Heulager, im Heustock. Man musste eine Leiter hoch, da lag es, das Heu, da war irgendwo eine Mulde, und ich lag da, und es war immer alles sehr weich. Und von unten hat man so ein bisschen die Tiere gehört: Stall eben. Und die Eltern waren vielleicht beschäftigt, waren am Melken und am Futtergeben, und ich habe mich da mal zurückgezogen, für eine Viertelstunde.

Und oben war es dunkel und unten war es hell.

Über einem war in der Höhe das Dach, es war viel Platz bis dahin, man war weg und trotzdem dabei. Man war allein und man war nicht allein, es war ein bisschen besonders, man wusste nicht genau, wo man war.
Meine Eltern ahnten schon, wo ich war, sie haben nicht nach mir gesucht. Vielleicht gab es mal ein Rufen oder es war egal, ich tauchte dann ja auch wieder auf. Weisst du: Nähe, Distanz, es war eine gute Mischung.

Was ich da gemacht habe?
Ein bisschen den Gedanken nachgehangen. Ein bisschen was verarbeitet. Heute würde man ‹Reflexion› sagen, aber als Kind denkt man ja nicht darüber nach, wie das heisst, was man da macht. Ich bin Wünschen nachgegangen; oder vielleicht hat mich was aus der Schule beschäftigt, was mir Kummer machte. Einfach mal für mich allein sein und dem Raum geben.

Es war ein Ort, den es sonst im Haus nicht gab und den es auch sonst nicht gab.
Das ist mir eben spontan in den Sinn gekommen: Als Kind, da war ich da oben! In diesem Schutzraum, weg von der elterlichen Kontrolle. Ich habe lange nicht mehr daran gedacht, und nun, wo ich es erzähle, fällt es mir ein: Das ist spannend …

Jetzt habe ich auch so einen Ort.
Wir haben genügend Platz, in unserer Wohnung. Wir haben den Luxus, dass jeder einen Raum für sich hat, und ich habe jetzt einen sehr bequemen Sessel mit Drehfunktion. Die Lehne und die Arme sind sehr ausladend. Man könnte auf den Armen je zwei Hände ablegen.
Als wir den gekauft und nach Hause gebracht haben, haben wir gesagt: ‹Oh, der braucht aber Platz!› Und da kann ich mich hineinsetzen am Morgen, bevor ich losgehe, gegen sieben.
Ich mache die Tür zu, ich habe nach zwei Seiten Sicht nach draussen; es ist vielleicht Morgendämmerung, im Winter mache ich ein leichtes Licht an. Ich bin ein bisschen geborgen, ein Stuhl, der mich empfängt, der bequem ist. Samten und dunkelblau. Und ich kann innehalten, bevor ich denke: Das muss ich machen und das muss ich machen und das auch noch. Es ist ein Ort, um zur Ruhe zu kommen, bevor man losgeht. Es ist ein Schutzraum, und ich muss mich nur entscheiden, ihn aufzusuchen.
Manchmal bin ich vielleicht schon zehn Minuten zu spät, und ich denke: ‹Ah nein, da setzt du dich jetzt doch hin.› Aber es ist kein Müssen, nicht so: ‹Ich mache das jetzt jeden Tag!› Wenn ich es mache, dann ist es gut, und wenn ich es nicht mache, dann habe ich nicht versagt.
Sondern: Ich möchte das. Es ist immer wieder meine Entscheidung.

Manchmal sitze ich da, es sind nur fünf Minuten gewesen, und ich denke: Ich war jetzt eine Viertelstunde weg! Das ist auch so ein Geheimnis: Die Zeit vermehrt sich, wenn ich sie mir nur nehme. Und ich gehe anders in den Tag. Und es ist gut, dass ich gerade davon erzähle: Das wird mich daran erinnern, mir diese Zeit zu nehmen.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.