Dieses Mal entschuldigt er sich nicht mehr dafür, dass seine Hände zittern beim Sprechen. Er benennt das Zittern noch kurz, vielleicht weil er aus seiner langen Lebenserfahrung weiss, dass etwas, das angesprochen ist, nicht ignoriert werden muss. Dann widmet sich Bobil anderem, kommt in seinen angenehmen Erzählrhythmus, berichtet von früher.
Ich habe die Eltern meiner Freundin Céline vor vielleicht einem Jahr das letzte Mal gesehen. Jetzt endlich sitze ich wieder mal in Bobils und Violettes Stube. Bobil ist mittlerweile, schätze ich, 83 Jahre alt und hat sich, wie es scheint, schon viel eher an sein Zittern gewöhnt.
Noch immer hebt er die Hände beim Sprechen, will, wie das immer schon seine Gewohnheit war, seine Worte mit Gesten in die Welt hinausbegleiten. Und sind die Hände eben erst einmal in der Luft, zittern sie halt ein wenig.
Doch Violette, die neben ihm im Sessel sitzt und grad von der Krankenschwester ihre Insulinspritze bekommen hat, daher etwas müde wirkt, braucht nur sanft seinen Vornamen zu nennen. Dann erinnert sich Bobil daran, dass es besser ist, seine Hände beim Sprechen auf seinen Oberschenkeln zu platzieren, dort, wo sie Ruhe finden. Einmal abgelegt, zittern seine Hände nämlich nicht mehr.
Bobil ist, wie er da so von Vergangenem erzählt, wunderschön anzusehen. Ich schaue und höre ihm gerne zu. Wenn er von „Prag, 97“ spricht, vom Esperanto-Kongress, seinen vielen wertvollen Bekanntschaften und jahrelangen Brieffreundschaften, leuchten seine Augen.
82, 91. Bobil reiht in der warmen Stube Jahreszahlen aneinander, 85. Er hat sich gemütlich in seiner Vergangenheit eingerichtet. 93 sei er mit seiner Familie hierhin, aufs Land, gezogen. Damals hatte er als Chemiker in Basel gearbeitet und den Schopf im Garten mit eigenen Händen gebaut. Wenn seine Hände jetzt, von Begeisterung getragen, beim Sprechen mitgehen wollen, spricht ihn Violette wieder mit seinen Vornamen an. Und er weiss Bescheid.
Violette will wissen, ob ich den Pfirsichbaum im Garten gesehen habe. Nullzehn hätten sie den Baum, der dort jetzt in voller Blüte steht, eingesetzt. Er blühe dieses Jahr besonders früh. „Und ja“, sagt auch Bobil schliesslich nach einer kurzen Pause, ihr Leben sei schon anders, ihr Alltag schon gleichmässiger geworden. Es gäbe keine Kongresse mehr, keine Reisen. Für ihre Tage gibt es jetzt eine sorgfältig erstellte Blaupause.
Jeden Tag um acht steht Bobil auf, geht ins Bad, rasiert sich mit dem elektrischen Rasierapparat, er macht das noch selber. Dann hilft er Violette beim Duschen und Anziehen. Nach dem Frühstück kommt die Krankenschwester zum ersten Mal; nach seinem ersten Schläfchen, nach dem Mittagessen, einem weiteren Schläfchen am Nachmittag, ein zweites Mal. Davor oder danach kommt der Sohn mit dem Einkauf nachhause.
Nach einer guten halben Stunde verabschieden wir, Céline und ich, uns wieder, weil wir ihnen Ruhe gönnen wollen, weil die Politsendung bald beginnt, die Sendung, die Bobil, wie mir seine Tochter später erklären wird, kaum je verpasst.
Bobil will nochmal genau wissen, wie die Dinge in der Schweiz laufen, fragt nochmals nach und erzählt noch ein, zwei Anekdoten, erzählt davon, wie er zu seinem Spitznamen gekommen ist, und warum er den Schuppen mit den Zinnsoldaten, sein „Museum“, schliesslich doch abbauen lassen musste.
Bobil erzählt ohne Reue, ohne Pathos, sachlich, gemächlich. Die beiden, er, aber auch Violette, wirken zufrieden in ihrer Stube. Sie müssen das Leben nicht, denke ich, wie eine Zitrone bis aufs Letzte auspressen. Sie müssen die Zukunft nicht mehr mit Erwartungen überladen, die Gegenwart nicht mehr mit Ambitionen überstellen. Sie sehen, was ist, was war. Und sie scheinen dankbar dafür zu sein.
Was für ein Leben, was für ein schönes Leben