Und es erscheint in der Ferne ein weisser Punkt

Wo es mir jetzt gelingt, nicht auf meinen Handybildschirm zu starren, wo es mir gelingt, durch das Zugfenster hindurch in die weite Ebene hineinzublicken, sehe ich die Dinge kommen und gehen. Unmittelbar vor mir Chaos, hüpfende Landschaft, Büsche und Masten, Äste wie Blitze, die Nebengleise als braungraue Schlangen, alles rast an mir vorbei. Doch ziemlich weit oben im Fenster erscheint ein weisser Fleck. Gemächlich schiebt er sich von links ins Bild, wahrscheinlich, so meine ich das zu erkennen, ein in der Ferne üppig blühender Kirschbaum. Er steht, glaube ich, vor einer blechernen Industriefassade. Das Leuchten des schattenlosen Weiss, nehme ich als Zeichen der Verheissung. Jetzt muss ich nur noch meinen Blick an diesen wandernden Punkt in der Ebene heften, seinem langsamen, stetigen Gang vom einen Zugfensterrand zum anderen folgen und die Dinge passieren lassen. Wenn die Blütenpracht, nach vielleicht einer Minute Zugfahrt, rechts wieder aus meinem Blickfeld verschwinden wird, wird der weisse Punkt meine Gedanken mit sich ziehen. Leer wird mein Kopf sein und in meinem leeren Kopf werden sich bunte Bilder formen. Ich werde T. sehen, in unserem Ferienhäuschen in Gyulakeszi, Ungarn, Frühling vor genau einem Jahr. Auf der Schwelle zum Schlafzimmer wird sie sich, so werde ich es vor meinem inneren Auge sehen, ein T-Shirt überziehen. Sie wird ihren Kopf zu mir drehen und mir zulächeln. Auf dem Zugfenster, durch das ich noch immer schaue, entdecke ich jetzt aber erst den Fettfleck einer Kinderhand. Im Zwischengang schiebt eine Frau die Tür zum WC auf. Mit Ekel im Gesicht und nach kurzem Zögern auf der Schwelle, verschwindet sie schliesslich in der Kabine und zieht die Türe wieder hinter sich zu. Die Männerhände im Nebenabteil halten ein Handy und schaukeln im Rhythmus der Fahrt. Dann blicke ich wieder durchs Zugfenster, in die Weite. Meine Augen suchen den Horizont. Ich sehe hohe Wolkentürme unbewegt in der Landschaft stehen. Auf der Bildwand meiner Erinnerung erscheint wieder T. Auf ihrem T-Shirt, das sie sich jetzt übergestreift hat, zeichnet sich das filigrane Schattenwerk des Feigenbaums ab, der draussen vor unserem Ferienhäuschen im Wind flimmert. T. macht einen Schritt auf mich zu. Noch immer lächelt sie. Während sie sich bewegt, ziehen die Schatten über ihren Körper. Dann, als am linken Rand des Zugfensters ein Landgut erscheint, reisst der Film in meinem Kopf wieder ab. In der Ferne schmiegen sich die verschachtelten Scheunen und Häuschen aneinander. Gemütlich sieht es aus, denke ich. Glück hat, denke ich, wer dort lebt. Unmittelbar vor mir funkelt die Landschaft vorüber, grüne Streifen, braune Flecken. Die Oberleitung springt Springseil. Im Innern des Zuges knistern Sitzarretierungen. Im Wagon wandert ein Lichtbogen in der Regelmässigkeit der Fahrt die Zwischenwand hinauf, löst sich am obersten Punkt der Zugdecke auf, um sich dann am Boden wieder neu zu formen und gleich wieder seinen Lauf zur Decke aufzunehmen, in, wie es scheint, ewiger Wiederholung. Dann wieder T. Ich sehe sie wieder vor mir, sie schmiegt sich auf dem Sofa in Gyulakeszi an mich Am Türpfosten zu unserem Schlafzimmer vibriert das Schattenspiel. Ich rieche wieder, wie es roch. Ich fühle wieder, was ich fühlte. Dann meldet sich die Zugführerin per Lautsprecher mit Vornamen in meine Erinnerung hinein. Noch zwei Stunden bis Nîmes, informiert Cathrine und wünscht uns weiterhin eine gute Fahrt. Neben mir ist T. Sie liest in einem Buch. Sie ist da. Schön, denke ich, sind wir wieder zusammen unterwegs, auch dieses Jahr. Mit etwas Glück gibt es dieses Jahr wieder so viel Licht in unserer Ferienwohnung wie letztes Jahr.

Im TGV zwischen Basel und Nîmes

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.