Sie ist Erstbezug

Wenn es ihr zu laut ist, wenn es ihr allmählich zu laut wird, wenn alle durcheinanderreden, auch noch der Heintje sich auf dem Plattenteller dreht und lauthals singt oder der Heino, dann steht sie auf und geht in ihr Zimmer.
Ihr Zimmer ist am Ende des langen Flures, nur geradeaus muss sie gehen; Schritt für Schritt geht sie, nicht schnell, aber auf langsame Weise energisch.
Ein Bild von ihr hängt an ihrer Zimmertür, jeder hat ein Bild an seiner Zimmertür hängen, ein Foto aus besseren Tagen. Als sie noch nicht hier sein musste, als sie bereits alt war, das schon, trotzdem musste sie nicht hier sein, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass sie mal in einem Heim wohnt, dass dort ihr letztes Zuhause sein wird. Wie sie an einem Nachmittag noch im Garten ihrer Tochter steht, zeigt das Bild an ihrer Tür, eine Gartenschere in der Hand, um die vertrockneten Blütenstände herunterzuschneiden, so macht man das, wenn der Herbst langsam kommt und nicht mehr zu vertreiben ist.
Im Garten hat ihre Tochter sie fotografiert, mit dem Handy. Dass es mal so kleine Telefone geben wird, die man überall mit hinnehmen kann, und was die alles können, unglaublich.

Lange hat sie noch ein Telefon mit Schnur gehabt, orange, aus Hartplastik, man konnte nicht damit herumgehen, durch die Wohnung schlendern, ein Sofakissen richten, die Fernsehzeitung schon mal aufschlagen, das Nudelwasser aufsetzen beim Telefonieren, ohne dass der andere etwas davon merkt und also einfach weiterredet und erzählt, was ihm so einfällt, wenn niemand antwortet. Und leise war es da, in ihrer Wohnung. Bis auf die Nachbarin, die Frau Fuchs, wenn die den Wasserhahn aufdrehte in ihrer Küche nebenan, also das hörte man schon. Aber die Frau Fuchs drehte den Wasserhahn ja gleich wieder zu. Und Stille war. Stille.
Leise war es auch im Garten ihrer Tochter, manchmal hörte man die Äpfel vom Apfelbaum ins nasse Gras plumpsen und musste sich beeilen, dass nicht die Schnecken kommen oder sich die Vögel eine Ecke herauspicken, was war es ruhig da, nicht so laut wie hier, gar kein Vergleich. Wo schnell alle durcheinanderreden, wo die Würfel auf den Tisch knallen, immer wird gespielt, nach dem Nachmittags-Kaffee-Trinken, kaum sind die Tassen abgeräumt und die Teller, Mensch-ärgere-dich-nicht, immer: Mensch-ärgere-dich-nicht, also sie ärgert sich schon, wenn Rumms! und Krach! die Würfel fliegen und eine Drei oder eine Fünf fällt und raus ist sie und muss wieder ganz von vorne anfangen, während die anderen lachen.

In welche Richtung geht es noch mal und was ist ihre Farbe?

Sie schliesst die Tür hinter sich und noch mehr Ruhe ist. Sie ist in ihrem Zimmer, dies Zimmer ist ihr geblieben. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl, den sie kennt; ein Bett, das sich ganz einfach hoch- und runterfahren lässt, was gar nicht nötig wäre. Nebenan das Badezimmer, das zu ihrem Zimmer gehört, ihr Badezimmer, wo sie jeden zweiten Tag geduscht wird.
Und der Sessel mit der Wolldecke. In den sie sich jetzt setzen wird, ausruhen. Ausruhen vom Tag, der noch nicht zu Ende ist, der irgendwie festhängt, der sich verstolpert hat, der sich nun selbst im Wege steht und der nicht weiss, was tun. Aus der Ferne, von ganz weit weg, hört sie verschwommen die Anderen. Ein Lachen, ein Stuhl wird gerückt und schabt über den Linoleumboden. Ein Hund bellt. Sie schliesst die Augen, nur kurz, dann ist sie eingeschlafen.

Sie sieht gut aus auf dem Foto, rege, aktiv und unerschrocken, das weisse Haar liegt in Wellen. Wie lange ist es her, dass das Foto gemacht wurde, dass sie im Garten der Tochter stand, vor dem Haus, zwei Strassen weiter, in dem sie ein paar Tage unterkam, als sie am späten Abend auf die Strasse lief, nur im Nachthemd und in Hausschuhen, in Schlappen, zum Glück führte noch jemand seinen Hund aus, der sie vom Sehen her kannte und wusste, wo er sie abgeben konnte, es lag schon Schnee. Nicht viel, der Boden war kaum bedeckt, das Thermometer am Küchenfenster zeigte trotzdem ein tiefes Minus.
Es hätte sonst was passieren können. Und es wurde nicht wieder besser.

So ist sie also hier, mit den anderen, denen es ebenso oder anders oder ganz anders ergangen ist, bis sie hier waren. Eine Schicksalsgemeinschaft, zu zwölft sind sie, aktuell. Sitzen an ihren Plätzen, immer an denselben Plätzen, das ist einfacher zu merken, wo einer hingehört, wo sein Platz ist und wo nicht, in einer Stunde werden sie gemeinsam zu Abend essen, werden da sitzen wie die zwölf Apostel, die auf Jesus warten, der vielleicht kommt, vielleicht kommt er auch nicht.

Es ist trotzdem ein Frieden im Raum, alle essen die geschmierten Brote und trinken den roten Tee, sie sollen ja viel trinken. Nicht dass sie austrocknen, wie man ihnen immer wieder mit einem Lächeln sagt: «Bitte nehmen Sie noch einen kleinen Schluck; nicht dass Sie uns noch austrocknen.» Man wird gesiezt, natürlich, aber sie darf ihre Lieblingspflegerin ‹Marion› nennen; ‹Frau Marion›, das geht natürlich auch.

An der Zimmertür links neben ihrem Zimmer hängt das Foto von einem Schiff, da wohnt ein Mann; an der Zimmertür in die andere Richtung hängt das Foto einer Frau, die darauf jünger ist, als sie heute ist, viel jünger. Zwei sind schon gestorben.

Jedenfalls: Das Zimmer ist schön gross, ihr Zimmer, ein Eckzimmer, mit Blick nach draussen auf die neuen Häuser, ein Modellprojekt, so stand es im Prospekt, aus dem ihr vorgelesen wurde, all die Zimmer mit je einem Badezimmer, dann der lange Flur und in der Mitte der Gemeinschaftsbereich, wo man gemeinsam essen kann und sitzen und Mensch-ärgere-dich-nicht spielen kann und laut sein und Schlager hören von früher, nur Erdgeschoss, keine Treppen, keine Stufen, über die man schnell mal fallen kann, was man in dem Alter keinesfalls mehr soll. Ebenerdig.
Und Erstbezug, so nennt man das, sie ist Erstbezug. Das ist doch immerhin etwas.

Und sie hat ihr Zimmer, ihr grosses, schönes Zimmer, in das sie geht, wo ihr Sessel steht, rutschfest, auf einem extra Stück Teppich steht der Sessel, in den sie sich setzt, mit der Wolldecke, in die sie sich einwickelt, fest, richtig fest, wenn es ihr zu viel wird, die elf Anderen und das ganze Leben. Einfach viel zu viel ist es ihr dann, und es braucht ja nicht immer einen Grund, warum man allein sein will und nicht zusammen mit den anderen, die ja nicht weglaufen, auch wenn mancher von ihnen das immer mal versucht und dann ratlos im Treppenhaus steht. Einfach so, nicht mit Absicht. Und wohin sollte man dann da draussen gehen?
Und sie setzt sich auf, langsam, ganz langsam setzt sie sich auf, sie hat ja Zeit, wenn sie etwas hat, dann Zeit und noch mehr Zeit, jeden Tag aufs Neue, und draussen geht vor ihrem bodentiefen Fenster wieder die Frau mit den zwei grossen Hunden vorbei, warum hat man zwei Hunde, einer hätte doch gereicht, einer macht doch Arbeit genug.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.