Paradies Finnland

Sonst umarmt mich mein Vater eigentlich nicht so. Aber wenn er mich mit dem Auto am Bahnhof von Tampere abholt, schliesst er mich immer in seine Arme. Wir freuen uns, uns zu sehen, und beginnen sofort zu reden, über die Reise, das Essen auf dem Flug, die letzten Tage und Wochen. Dann steigen wir ins Auto, fahren erst auf einer Autobahn, dann über Landstrassen und schliesslich auf Schotterpisten zum Haus, wo meine Eltern jetzt wohnen.

Als meine Mutter und mein Vater vor zwei Jahren endlich pensioniert wurden, sind sie nach Finnland ausgewandert. Vorher schon haben sie während Jahren davon gesprochen. Wir wussten alle, dass es ihnen ernst damit war. Mit ihrer Rente konnten sie sich in der Schweiz nicht den Lebensstandard leisten, den sie sich für ihren Lebensabend gewünscht hätten. Erst wollten sie nach Griechenland. Dann aber wurde ihnen schnell klar: Es muss, man wird ja schliesslich älter, ein Land mit guter Gesundheitsversorgung sein. Also. Wieso nicht Finnland, wieso eigentlich nicht: F-i-n-n-l-a-n-d?!

Ich steige aus Papas Auto und stosse das Gartentor auf. Kenta stürmt auch mich zu, um mich zu begrüssen, bellt und wedelt mit dem Schwanz. Ich freue mich, weil ich sehe, wie sie sich freut. Dann gehen wir, mein Vater, Kenta und ich, zur Veranda, wo meine Mutter schon wartet. Auch sie umarmt mich, noch bevor wir alle zusammen ins Haus treten. Dann trinken wir Kaffee und essen diese schwedischen Haferkekse mit Honig. Ach, wie heissen sie noch? Das sollte ich doch wissen! Weisst du, diese flachen, die, die es bei uns im IKEA-Restaurant auch gibt. Naja.

Nach dem Kaffee mit meinen Eltern stehe ich dann jedenfalls auf und trete auf die Veranda. Ich atme tief durch, straffe mich und fühle, wie die Last von mir fällt. Ich fühle es körperlich. Ich arbeite, weisst du, in einem Reha-Zentrum in der Nähe von Winterthur als Masseur. Ich beginne am Morgen um acht Uhr und kann um halb sechs Uhr abends wieder Feierabend machen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich für meinen Job körperlich verausgabe, das geht alles. Wir haben eineinhalb Stunden Pause am Tag und am Morgen habe ich, wenn ich Glück habe, auch Schwimmbadaufsicht. Das ist, ehrlich gesagt, auch fast wie Pause. Doch psychisch fordert mich der Job sehr.

Das Zuhören verlangt uns Masseuren und Masseurinnen einiges ab. Mit unseren Händen berühren wir Körper, aber auch Menschen. Wenn ich eine Muskelverspannung löse, löse ich oft auch etwas aus, in der Seele, meine ich. Ich höre jeden Tag so viele Lebensgeschichten, sehe so viele Menschen weinen. Manchmal erdrückts mich schier.

Am Tag nach meiner Ankunft bei meinen Eltern gehe ich darum in den Wald. Der Wald ist in Finnland fast überall. Bei meinen Eltern beginnt er gleich hinterm Garten. Ich brauche nicht weit zu gehen, eine halbe Stunde vielleicht, um an meinen Felsen zu kommen. Er steht inmitten einer Lichtung, hat von Gletscher, Eis und Schnee über die Jahrhunderte abgerundete Kanten und liebliche Formen bekommen, sieht fast weich aus, wie ein Kissen, das zum Ausruhen einlädt. An der Seite zum Wald hin ist er moosbewachsen.

Ich besteige den Felsen und setze mich auf dem obersten Punkt. Dort höre ich dem Rauschen des Waldes zu. Neben mir wiegen die Baumkronen im Wind. Die Luft ist frisch. Am Himmel ziehn Wolken vorbei. Der Eichelhäher schimpft wieder. Alles ist wie immer. Ich komme an.

Vor zwanzig Tagen ging nun auch meine Schwester. Auch sie ist mit ihrem Mann nach Finnland ausgewandert. Weil ihr Mann in einer internationalen Firma für einen Schweizer Lohn arbeiten kann, erhoffen auch sie sich dort ein besseres Leben. Nun sind nur noch mein Zwillingsbruder und ich in der Schweiz. Und wahrscheinlich, wahrscheinlich gehe auch ich.

Wenn Heimweh Fernweh ist: Der 37-jährige Reto sitzt im Coop-Restaurant an einem Tisch und erzählt mir von seinen Eltern – und von Finnland.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.