Nun bin ich also hier

Es ist schon spät, als ich mit meinem Koffer in der Hand ankomme. Die Deutsche Bahn war natürlich nicht pünktlich, und ich fröstle, wie ich nun so auf dem Perron stehe und Ausschau nach meiner neuen Arbeitskollegin halte. Sie hat mir angeboten, bei ihr und ihrer Familie zu wohnen, bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe. Ihren Mann und ihre zwei Söhne versuche ich mir jetzt vorzustellen, wie ich mich vom Strom der Heimkommenden mitziehen lasse. Ich fühle mich mit den fremden Menschen um mich herum verbunden, als wären es Komplizen in einer geheimen Sache.

Nun bin ich also hier, W-i-n-t-e-r-t-h-u-r. Der Bahnhof ist nicht klein und nicht gross. Er ist nicht schön und er ist nicht hässlichSo ganz fassen kann ich es noch nicht. Ich habe den Job an der PH wirklich bekommen. Und ich habe ihn wirklich angenommen. 23 Jahre lang war ich davor befristet an der Uni Bielefeld angestellt. Der Wechsel nach Zürich war vielleicht meine allerletzte Chance, noch eine feste Stelle zu bekommen. Ich hätte in Bielefeld einklagen oder einfach abwarten und hoffen können. Aber das eine wollte ich, das andere konnte ich nicht. Aber dem Neuen eine Chance geben, das konnte ich irgendwie. Ich habe das Jobangebot in der Schweiz angenommen, ohne mir eine Hintertür ins alte Leben offen zu halten. Darüber wundere ich mich, wie ich jetzt die breite Treppe in die Nacht hinaufsteige, selbst ein wenig. Ich bin froh, dass ich nicht lange unter der grossen Anzeigetafel warten muss, bis Ingrid kommt, um mich mit ihrem kleinen Auto durch die Dunkelheit zu fahren.

Manchmal muss man innehalten, manchmal – und das ist, glaube ich, jetzt der Fall, wie ich nun in diesem Auto sitze, korrekt angeschnallt – muss man aufbrechen und den Blick stur nach vorne richten, wenn man vom Fleck kommen will. Als wir unter den Wohnblock fahren, fällt mir im Neonlicht der Tiefgarageneinfahrt auf, dass wir in eine Schweizer und nicht in eine deutsche Tiefgarage fahren. Ich merke das an Dingen, die so klein sind, dass ich mir die Dinge selber nicht bennenen kann. Allein das Wissen darum, dass es eben eine Schweizer Garage ist, drängt jetzt an die Oberfläche meines Bewusstseins, wie eine aufsteigende Sauerstoffblase vom Grund eines dunkeln Sees. Vielleicht sind die Farben auf der Schranke, die ich von weitem schon sehe, anders angeordnet, vielleicht ist die Schranke statt gelb-rot rot-gelb, was weiss ich, irgendwas ist jedenfalls anders, irgendwas ist neu, und ich bin Teil davon.

Von der Garage führt nicht, wie ich es erwartet hätte, ein langer Gang in den nächsten. Aus dem Auto ausgestiegen, stehen wir bald schon in einem Lift, der uns nicht in die neutrale Zwischenwelt eines modernen Treppenhauses führt, sondern direkt in die Küche der Wohnung. So stehe ich viel schneller als erwartet in einer fremden Wohnung, wo mich ein fremder Mann freundlich begrüsst. Die Pfannkuchen auf dem Tisch – die sie hier, wie ich lerne, „Crêpes“ nennen – sind noch warm. Ich beginne zu essen, bin müde von der langen Reise, und der Koffer, gepackt wie für den Urlaub, steht noch neben mir.

Am nächsten Morgen ist meine Kollegin schon zur Arbeit gefahren. Wegen einer Sitzung musste sie früh los. Als ich in die Küche hinuntergehe, trinkt ihr Mann dort zum Frühstück ein Glas Wasser. Ich traue mich nicht, nach einem Kaffee zu fragen, und verlasse bald das Haus. Die Bushaltestelle finde ich dank seiner Beschreibung gut. Ich bin überrascht, dass ich mit meinem ZVV-Ticket auch die Schnellzüge nach „Züri“ nehmen darf.

Während einer Sitzung stelle ich mich am neuen Arbeitsplatz in Zürich kurz vor. Meine Arbeit beginnt erst nächste Woche. So gibt es nach dem Treffen für mich in der grossen Stadt nicht viel zu tun, und ich fahre bald wieder zurück nach Winterthur. Allerdings gelingt mir das Zurückkommen nicht ganz so gut wie das Hinkommen. Ich verlaufe mich und muss meine Kollegin anrufen, um nach dem Weg zu fragen. Sonst passiert mir das nie. Fast immer denke ich beim Hingehen schon ans Zurückkommen, präge mir Wegpunkte ein, ein Reklameschild zum Beispiel oder einen Kreisel. Im Lichtkegel meiner Aufmerksamkeit leuchtete auf dem Hinweg dieses Mal aber nur die bevorstehende Sitzung bunt in meinem Kopf auf. Was um mich herum passierte, blieb im Dunkeln.

Manchmal denke ich mir das Leben als Film. Überflüssig genau und detailverliebt reihe ich in meinem Kopf innere Bilder zu einer Szene auf, die es so nie geben wird. Ich stelle mir den Händedruck der Kollegin vor, ihre Haare und das Sitzungszimmer, nur um später zu merken, dass die Wirklichkeit eine andere ist.

Etwas peinlich ist es mir nun, dass ich mir, ob all dem und entgegen meinen Gewohnheiten, den Rückweg nicht eingeprägt habe. Ich zögere etwas, doch als ich schliesslich die Nummer meiner Kollegin auf dem Touchscreen tippe, löst sich bald alles auf. Es wird mir nie mehr passieren. Ich gehe zurück nach Winterthur und sehe mir an, wo ich vergangene Nacht gelandet bin, wie die Stadt ausschaut, die ich bald, das habe ich mir vorgenommen, „meine Stadt“ nennen will.

Am Wochenende kommt dann Paul mit meiner Yogamatte und meinem Rechner in unser neues Zuhause. Wir legen uns einen netten Plan zurecht, wie wir das mit unseren Sachen machen wollen. Erst will ich nur das einfachere Fahrrad mit der Deutschen Bahn rüberbringen, der Rest soll vorerst in der Soester Wohnung bleiben, die wir natürlich noch nicht aufgegeben haben. Doch dann kommt schon bald Corona. Lockdown und Reisebeschränkungen zwingen mich in einem Moment zum Innehalten, wo ich lieber schnell und beherzten Schrittes vorangegangen wäre. Doch die Zwangspause, stelle ich nach einiger Zeit fest, tut mir gut. Ich sehe, wohin ich will und wie ich wieder zurückfände, wenn ich es nicht mehr wollen würde. Und so kommt die Zeit, sich eine eigene Wohnung in Winterthur zu suchen. Im September 2020, alles findet langsam wieder in eine Normalität zurück, beladen Paul und ich unser Auto, drücken die Dinge, die wir glauben mitnehmen zu müssen, in alle Winkel unseres VWs und fahren los.

Unser neues Zuhause in Veltheim ist schön, aber klein – zu klein, was es, das wissen wir, zu einer Zwischenlösung macht. Ich setze nicht auf eine Wohnung, nicht alles auf eine Karte, nie im Leben habe ich das gemacht. Im Moment ist es das Richtige, an zwei Orten zu Hause zu sein. Zwingt mir das Leben die Veränderung nicht auf, richte ich mich in ihr ein, wie in einem Wohnzimmer. Ich mache es mir gemütlich, denke mir die Veränderung als Prozess und nehme mir Zeit für sie, wie für eine gute Freundin. Einen Bruch oder einen Schnitt empfände ich jeweils als Verrat am Vergangenen. Denn etwas geht immer weiter.

Ich bin erstaunt, wie fest sich unser Leben hier wie da gleicht. Unsere Gewohnheiten haben sich in der Schweiz kaum verändert, Paul und ich arbeiten, spielen Gitarre und gehen auf dem Gemüsemarkt einkaufen. Das Leben an zwei Orten entfaltet seinen Reiz. Ich kann an beiden Orten verschiedene Facetten von mir leben. In Winterthur nehmen mich die Menschen, wieso auch immer, lockerer wahr, in Soest sehen sie meinen strukturierten Fleiss. Ich habe nie verstanden, wieso die Menschen nicht beides zusammen aushalten können. Als ob, wer fleissig und ambitioniert ist, nicht locker und witzig sein könnte. Immer schon hat beides zu mir gehört. Immer schon war beides in mir nicht als Gegensatz, sondern als Vielfalt vereint. Nur weil ich für meine Sachen gehe, heisst das doch nicht, dass ich dabei nicht locker und verspielt sein kann. Gerade das Engagement ist es doch, das mich erfüllt und leichter werden lässt.

Klar, gibt es die Momente der Sehnsucht, Momente, in denen ich mich weder hier noch da so richtig zuhause fühle. Aber sie sind zum Glück selten. Wir fühlen uns ganz wohl in unseren zwei Wohnungen, in unseren zwei Heimaten.

Wenn wir für einen längeren Urlaub oder übers Wochenende nach Soest zurückfahren, gewöhne ich mich jeweils wieder recht schnell an die Wohnung und mein Leben dort. Für einen kurzen Moment ist es mir dann so, als gäbe es mein Leben in Winterthur gar nicht. Doch dann geht es auch wieder schnell, bis ich in mir das Ziehen spüre. Wir werden sehen, wo wir in fünf Jahren leben werden, der Paul und ich. Ob hier oder dort oder noch immer, wie jetzt, hier und dort: Es wird gut sein, genau so, wie es ist. Weil ich will, dass es gut sein wird. Und weil ich weiss, dass das manchmal schon reicht.

Ihren Umzug in die Schweiz schildert uns die 57-jährige Paula an einem regnerischen Samstagnachmittag im Hecht.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.