«Lotta, erzähl mal die Geschichte vom Kanu»

Lotta und Lulu sitzen auf einer Bank direkt beim Flohmi. An die Mauer eines Gebäudes gelehnt, essen sie Falafel. Die beiden Frauen sind 36 Jahre alt. Und sie sind ein Ehepaar. Bald werden sie Mamas. Lulu ist im siebten Monat schwanger. Sie erzählen vom Loslassen. Und von einem Kanu.

Lotta: «Momentan wohnen wir in Velten, in einer Mietwohnung. Nun ziehen wir dorthin, wo ich aufgewachsen bin, nach Steckborn. In ein kleines Häuschen direkt am See, mit riesigem Garten. Wegen Renovationsverzögerungen ziehen wir voraussichtlich per ersten Januar 2024 ein. Der Geburtstermin ist Mitte Dezember. Das wird eine spannende Zügelei.»

Lulu: «Also Lotta zieht um und ich sorge dafür, dass die Kleine zur Welt kommt. Erst dachten wir, dass das nicht funktionieren wird. Geburts- und Umzugstermin – so nahe. Aber wir haben schon so viel gemeistert zusammen. Das packen wir.»

Lotta: «Wir haben schon oft zusammen gezügelt, das war immer wirklich enorm stressig. Einmal wohnten wir in einem Bus, einem Peugeot Boxer. Damals lösten wir alles auf, verschenkten unser komplettes Mobiliar. Tisch, Möbel, Geschirr, alles, was im Bus keinen Platz hatte.»

Lulu: «Das war mega. Wir hatten nur noch das, was wir wirklich brauchten. Ein paar Erbstücke hatten wir zwischengelagert, ein paar andere Dinge gaben wir leihweise weg. Als wir unsere aktuelle Wohnung in Velten mieteten, bekamen wir fast alles geschenkt. Viele Leute haben ja uh viele Sachen in Estrichen und Keller, die sie nicht mehr brauchen. Das war total spannend.»

Lotta: «Wir lebten sieben Monate in dem Bus. Eigentlich, weil wir reisen wollten. Zuerst blieben wir aber noch und arbeiteten eine Weile, das war dann aber chli anstrengend. Wenn ich am Abend noch ins Training wollte, war Lulu heimatlos, weil ich unser Daheim dahin mitgenommen habe …»

Lulu: «… und ich machte einen Spaziergang, bis sie mit unserem Zuhause wieder zurückkam. Jetzt ziehen wir wieder eine Etappe weiter. Es ist der richtige Zeitpunkt. Wir hatten so Glück mit dem mega herzigen, kleinen Hüsli. Wir hatten immer schon gesagt: Wenn wir uns sesshaft machen, dann in einem Haus am See. Dass das jetzt Realität wird, das ist einfach unfassbar toll.»

Lotta: «Uns sind die Wohnungen immer schon ‹zugeflogen›. Unsere aktuelle Wohnung bekamen wir, als wir auf Reisen waren. Wir schickten einen Kollegen hin, der für uns die Wohnung besichtigte. Im letzten März kamen wir zurück und zogen ein.»

Lulu: «Es war eine schöne Zeit in dieser Wohnung. Das Paar gegenüber wurde zu unseren Freunden, er wird Götti von unserer Kleinen. Wir lernten hier Leute fürs Leben kennen. Das Umfeld, das Durch-die-Stadt-Flanieren, das kulturelle Leben werde ich vielleicht schon etwas vermissen. Aber sonst? Vermissen? Wir sind recht gut im Loslassen – also wenigstens ich.»

Lotta lacht: «Ja, darin bin ich noch nicht so gut. Aber ich lerne. Wenn ich Dinge angeboten bekomme, muss ich sie einfach nehmen, aus Angst, dass sie sonst fortgeschmissen werden. Als wären sie ein Teil von mir. So nehme ich oft Dinge an, die ich eigentlich gar nicht brauche. Dass ich mich an Dinge klammere, liegt wahrscheinlich daran, dass mein Vater früh gestorben ist. Und mein Bruder auch. Von ihnen habe ich viele Sachen übernommen. Manchmal sind Sachen auch Erinnerungen.»

Lulu: «Es ist dein Prozess. Du weisst eigentlich genau, dass dich diese materiellen Dinge nicht wirklich mit deinem Vater und Bruder verbinden, aber es ist für dich das, was von ihnen übrig ist. Etwas, das sie berührt haben mit ihren Händen. Etwas, das auch sie gerne hatten. Ich verstehe das gut.»

Lotta: «Bei Menschen entscheidet das Leben, ob sie gehen oder bleiben. Da hat man keine Wahl. Man muss es akzeptieren. Bei materiellen Dingen kann ich selbst entscheiden, ob ich loslasse oder nicht. Hier habe ich die Kontrolle. Dinge mit emotionalem Wert sind besonders schwierig loszulassen. Ich habe noch eine Kommode von meinem Vater und einen Stuhl von meinem Bruder.

Von einigen Dingen habe ich mich aber trennen können. Von der kompletten CD- und Plattensammlung meines Bruders zum Beispiel. Am Anfang hörte ich seine Musik ständig, ich baute ein Gestell. Irgendwann standen die CDs nur noch im Gestell. Das war der Zeitpunkt loszulassen. Ich stellte die CDs vor die Tür, in einer Kiste mit dem Zettel: Gratis zum Mitnehmen. Die Kiste abzustellen, die Hände vom Karton zu lösen, mich aufzurichten und reinzugehen, dieser Erinnerung an meinen Bruder den Rücken zu kehren, das brauchte Kraft und Überwindung. Anfangs ging eine CD nach der anderen weg. Dann war plötzlich die ganze Kiste fort. Der Anblick des leeren Platzes, dort, wo die Kiste gerade noch gestanden hatte, war okay. Es war einfach gut.»

Lulu: «Als ich dich kennenlernte, hattest du noch keine Wohnung. Du hattest nur diesen Keller. Vollgepackt mit Sachen von deinem Bruder. Den haben wir dann zusammen geräumt.»

Lotta: «Ja, dieser Keller war wie ein Mausoleum. Obwohl ich gar nie dort runterging, war allein das Wissen darum erdrückend. Mit jedem Stück, das wir beide die Treppe raufschleppten, wurde mein Atmen freier. Stück für Stück. Bis ich endlich wieder frei atmen konnte.»

Lulu: «Und da war ja noch das Kanu, Lotta. Erzähl mal diese Geschichte.»

Lotta: «Ja, das Familienkanu. Das Kanu meines Vaters. Mein Vater liebte es. Er fuhr damit auch oft mit meinem Bruder raus. Von einem dieser Ausflüge gibt es noch einen Videofilm. Zwanzig Jahre lang habe ich es überall hin mitgezügelt. Es war verwittert von den Jahren in Wind und Wetter. Ich habe es restauriert und viel Arbeit investiert. Anfangs brauchte es die ganze Familie. Am Schluss nur noch ich. Und dann, irgendwann, auch ich nicht mehr.»

Lulu: «Wir zwei machten noch einige Ausflüge mit dem Kanu, das war immer richtig schön.»

Lotta: «Ja, das stimmt. Und dann brauchten auch wir es nicht mehr. Vor ein paar Monaten habe ich es auf Ricardo ausgeschrieben, recht günstig, es war auch schon ziemlich alt. Und dann kam das, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Familie und Bekannte waren total empört. Das gehe aber jetzt überhaupt nicht, meinten sie. Das Familienkanu dürfe doch nicht verkauft werden! Mein Vater habe doch so Freude dran gehabt. Und mein Bruder auch. ‹Gehts noch?›, regten sie sich auf. Alle redeten sie in ihrer Empörung wild durcheinander. Und ich war überrascht. Zuerst habe ich mich schlecht gefühlt. Aber dann regte sich etwas in mir. Keiner kümmerte sich all die Jahre um dieses Boot. Und nun, ein Aufschrei? ‹Du willst es kaufen? Oder geschenkt? Bitte. Nimm es›, sagte ich. Doch keiner wollte es haben. Letztendlich kaufte es ein Vater mit seinem Sohn. So schliesst sich wieder der Kreis.»

Ein Leben ist Ankommen, ist Aufbrechen, ist Anschaffen, ist Loslassen. Das wissen Lotta und Lulu, beide 36 Jahre alt, nur allzu gut.

Anita Zulauf

Anita wurde 1967 als viertes Kind eines Schweizers und einer Österreicherin geboren. Als Quereinsteigerin in den Journalismus schrieb sie ab 1995 für die Berner Zeitung, das Solothurner Tagblatt, die Migrationszeitung Mix, das Magazin wir eltern, das Kulturmagazin ERNST und ist Mitglied der Edition ERNST. Obwohl ihr Themenspektrum breit ist, liegt ihr Interesse primär bei Menschen, Geschichten übers Leben und Biografien. Durch die Ausbildung zur Fotografin und die Weiterbildung zur Videoproduzentin ist sie aktuell neben dem Schreiben mit dem bewegten Bild und der Fotografie beschäftigt.