Zürich, das ist die Hauptstadt der Schweiz.
Und: In der Schweiz sprechen sie deutsch.
Am ersten August 2007 bin ich mit meinem Mann in die Schweiz ein- oder ausgereist, je nachdem, wie man es nennen will; also am Nationalfeiertag, um in der Schweiz zu arbeiten. Ich komme aus dem Osten von Deutschland, aus Dresden. Somit aus der ehemaligen DDR. Uns im Osten hat die Schweiz ja gar nichts gesagt.
Nun hatten wir ein Arbeitsangebot bekommen und gingen also in die Schweiz, ins Tessin.
Ins Tessin.
Klingelt da was?
Italienisch!
Mein erster Arbeitstag war der zwote-achte, ich habe als Hausdame in einem privaten Haushalt gearbeitet, in Morcote am Luganer See, dem schönsten Dorf der Schweiz, was für ein Blick vom Hang runter auf den See, die Gärtner waren da, und ich habe gemerkt: Die sprechen italienisch, ja wie geht das denn?
Also habe ich mir überlegt: Du musst dich anpassen und habe mich am nächsten Tag angemeldet in der Klubschule bei MIGROS, habe angefangen, Italienisch zu lernen.
Und als ich die ersten zwei Worte Italienisch draufhatte und meinem Gärtner sagen konnte: „Faccio io – Ich mache es“, hat der mich mit so großen Augen angeguckt und plötzlich konnte der Deutsch. Er hatte vornweg nie Deutsch mit mir gesprochen und nun wurde alles ganz einfach. Man sprach mit mir, und ich lernte Italienisch.
Das war ein Aha-Erlebnis, ein sehr schönes, und schön ist es immer noch, weil: Ich bin hier geblieben, wir sind hier geblieben. Uns trägt man erst mit den Füßen voran wieder heraus.
Ich habe vieles gemacht in meinem Leben, habe Apothekenfacharbeiter gelernt, dann wurden die Kinder geboren, ich habe als Sekretärin bei einer Betriebszeitung in Dresden angefangen, obwohl ich keine Schreibmaschinenkenntnisse hatte, nach der Wende habe ich in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet, die ja in Ostdeutschland wie Pilze aus dem Boden schossen, zuletzt als Chefsekretärin.
Dann hatte mein Mann 2001 einen Schlaganfall. Das war beruflich sehr schwierig. Ich musste mir etwas Neues einfallen lassen. Eine Tätigkeit, wo ich nicht früh aus dem Haus ging und später am Abend wieder kam, sondern wo ich vor Ort blieb und vor Ort arbeitete. So wie Hausdame. Kochen konnte ich schon immer gut und alles andere auch, und was man nicht kann, das muss man lernen.
Wir waren in der Nähe von München, in der Nähe von Berlin, dann kam das Angebot aus der Schweiz, wo unsere Tochter schon war. Als Krankenschwester. Im Spital.
Wenn man in die Schweiz geht und keine Ahnung hat und etwa denkt, Zürich ist die Hauptstadt, steht man erstmal vor einem Sack voller Probleme. Durch meine Tochter war mein Sack nicht so groß. Die konnte mir bald sagen: Da musst du dich anmelden und das musst du so machen und das so nicht. Und klar sind die Schweizer speziell. Da ist eine Hürde, über die musst du rüber. Aber wenn du auf sie zugehst, auf die Schweizer, wenn du hartnäckig bleibst, sagen sie irgendwann: ‚Guck dir die an, die ist geblieben‘. Weil: Du bist nicht wieder gegangen.
Den Rest meines Berufslebens habe ich später in Thun verbracht, in einer Altersresidenz, gehobener Standard. Jetzt wohnen wir in Münchenbuchsee, ich bin Rentner und fühle mich total pudelwohl. Ich habe ein ziemlich durchwachsenes, gelebtes Leben gehabt und jede Minute ist kostbar gewesen; die ganzen Erinnerungen, an die ich mich zurückerinnere. Schön war‘s, die Zeit im Tessin. Und schön ist es immer noch.
Die frühere Heimat, Dresden und Sachsen – neulich haben wir uns mit früheren Nachbarn getroffen, einem Ehepaar gleichen Alters, auf neutralem Boden sind wir zusammengekommen, das war mir wichtig, in Hessen, wir waren vorher nie wieder in Deutschland. Es war schön, aber dann sind wir nach Hause gefahren und nach Hause ist hier, und wir waren froh, wieder hier zu sein, und so wird es bleiben.
Klar sind die Schweizer speziell
Frank Keil
Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.