Im Mockentobel

Also. Viel zu erzählen hab‘ ich nicht. Nur ein einziges Mal bin ich in meinem Leben umgezogen, vom Elternhaus weg in eine WG im Mockentobel. Das ist jetzt schon zwanzig Jahre her. Und noch immer wohne ich dort.

Michi, mein Bruder, hatte das Inserat damals entdeckt. Es war günstig. Ein ganzes Haus. Wir zogen zusammen mit drei Freunden ein, obwohl uns das Viertel etwas mehrbesser vorkam. Wir hatten dieselben Freunde, Michi und ich. Michi ist nur drei Jahr älter als ich. Und wir waren immer schon sehr eng, wir zwei.

Michi schaute zu mir. Unsere Rollen waren immer schon klar verteilt. Er der grössere Bruder und ich der kleinere. Er der Vernünftige und ich der Chaot. Er der Korrekte, der Zielstrebige, der, der alles im Griff hat, der, der gut auf die Leute zugehen kann, der, der recht gut durchs Leben kommt. Ich war mit zwölf das erste Mal depressiv.

Die Krankheit begleitet mich seither durchs Leben. Es ist zum Glück nicht so, dass es mir immer schlecht gehen würde. Aber immer wieder habe ich etwas schwierigere Phasen, Phasen, in denen mich Michi immer unterstützt hatte. Ging es mir, als wir noch zusammen im Mockentobel wohnten, nicht gut, fragte er mich, ob er für mich kochen oder die Wäsche machen sollte. Manchmal sagte er aber auch zu mir: «Thomu, reiss dich zusammen.» Und ich riss mich zusammen.

Als Michi, das ist jetzt 21 Jahre her, von seiner Weltreise zurückkam, hatte er sich in Thailand verliebt. Darüber gesprochen hatte er nie so richtig, peu à peu und mehr zwischen seinen Reiseberichten kam diese Liebegeschichte, die – so verstand ich irgendwann – durchaus ernst war, zum Vorschein. Erst vier Jahre später war die Geschichte in unseren Alltag im Mockentobel angekommen. Michi hatte mit dieser Frau Kontakt gehalten und reiste wieder zu ihr nach Thailand. Schon als er ging, sagte er: «Thomu, vielleicht komme ich als verheirateter Mann wieder zurück.» Und das war dann auch so.

Nach der Reise kam er dann mit ihr in die Schweiz. Sie zogen bei uns ein. Ich fands super. Anfangs gings recht gut, doch irgendwann hatte Michis Frau Heimweh, es wollte bei ihr nicht so richtig klappen mit dem Arbeiten. Und sowieso: Sie wollten etwas Eigenes. So zogen sie nach einem Jahr aus. An den Auszug kann ich mich kaum mehr erinnern, nein.

Aber ein Jahr nach dem Auszug kam ihre Tochter Mia zur Welt. Heute lebt Michi die Hälfte des Jahres in Thailand, die andere Hälfte in der Schweiz. Wenn Michi hier ist, sehe ich ihn ziemlich oft. Er kommt dann manchmal zu mir ins Mockentobel. Und alles ist fast wieder wie früher.

Ich mag das Haus in der mehrbesseren Umgebung noch immer sehr. Ich mag die grosse Wiese mit der Feuerstelle, das viele Holz, die Stube. Mache ich das Fenster auf, höre ich meinen Nachbarn Klavier spielen. Oder ich sehe unserer Katze zu, wie sie den Vögeln hinterherjagt. Sie heisst Silvio. Wir haben sie, der Bunga-Bunga-Partys wegen, nach Berlusconi benannt.

Manchmal denke ich, du musst dich bewegen, Thomu, du musst mal was wagen, du musst umziehen. Dann sitze ich wieder auf dem Balkon, trinke Kaffee, rauche eine Zigi und schaue den Eichhörnchen beim Klettern zu. Manchmal sind da auch die Kolkraben, die mit Nüssen im Schnabel auffliegen, um sie aus grosser Höhe auf den Boden fallen zu lassen, weil sie sie aufzukriegen wollen. Diese Tiere sind unglaublich intelligent.

Ja, es ist wirklich schön im grossen Haus im Mockentobel. Darum habe ich nicht wirklich viel zu erzählen übers Umziehen. Ich bin nicht unbedingt der Richtige, nein. Ich bin da. Noch immer bin ich da, noch immer ist es gut so, wie es ist, meistens jedenfalls, noch immer wohne ich im selben Haus, wo wir vor zwanzig Jahren eingezogen sind, der Michi, drei Freunde und ich.

Der 45-jährige Thomas erzählt vom Bleiben. Und seinem Bruder.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.