Am meisten zu Hause fühle ich mich in der Familie, auch wenn das nicht immer das angenehmste Gefühl ist. Mit den Kollegen und Kolleginnen ist es leichter, Richtung: ‚leichtes Gemüt‘. Ich fühle mich unter ihnen unbeschwerter, auch weil es weniger Probleme gibt. Meine Familie hat eine Geschichte, vieles ist schon passiert und nicht nur Gutes. Aber das gehört unbedingt dazu.
Mit achtzehn bin ich nach Lausanne gezogen, wegen der Arbeit und um besser Französisch zu lernen. Das war eine spannende Erfahrung, weil ich das Zuhause damals als eine Selbstverständlichkeit empfand, ich wusste immer, wo es war. Mit dem Auszug war dieses Gefühl nicht mehr da, und ich habe mich oft allein gefühlt, auch weil meine Freunde weg waren, und so fühlte es sich sehr befreiend an, als ich nach zwei Jahren zurückgekehrt war. Als ich vorher noch zuhause lebte, dachte ich eher: Wann, wann kann ich endlich ausziehen?
Ja, Familie, das sind Eltern, sind die Geschwister; Familie, das ist das Bedrückende, auch das Traurige, es ist einfach Schicksal, und es gibt auch eine grosse Dankbarkeit, denn es ist ein grosses Privileg, eine Familie zu haben, wo ich mich wohlfühle, ohne dass alles perfekt sein muss.
Wie oft ich meine Familie besuche, möchtest du wissen? Das ist sehr unterschiedlich. So eine Tradition, wir treffen uns am Sonntag, zum Mittag, die führen wir nicht. Ich tauche meistens spontan auf. Letztes Jahr war ich viel mit dem Zirkus unterwegs, wo ich wohne und arbeite, und da war es eher wenig, und vorher war ich Reisen und damit auch länger weg. Jetzt die letzte Zeit hatte ich viel frei und war öfters zuhause.
Wo meine Familie wohnt, gibt es einen Garten, und in diesem Garten habe ich viel Zeit verbracht, von daher habe ich das Gefühl: dieser Garten, das ist für mich am meisten der Wohnort meiner Familie. Was ich schätze, ist die Beständigkeit; dass es immer mehr oder weniger gleich ist, wenn ich nach Hause komme. Es ist noch alles beim Alten, auch wenn sich Sachen ändern. Wie: dass meine Schwestern gross werden, ich habe zwei jüngere Schwestern. Ich vergesse das manchmal, dass sich auch in meiner Familie etwas ändern kann. Es ist dieses gedankenlose Bewegen im Haus meiner Eltern, das ich mag, weil alles so einprogrammiert ist: Wenn ich etwas aus dem Keller holen soll, dann gehe ich gedankenverloren in den Keller und gehe gedankenverloren wieder hoch und alles schaut noch gleich aus. Die gleiche Sauberkeit, die gleiche Ordnung, alles ist an seinem Platz.
Es sind immer noch Mama und Papa und meine zwei Geschwister, und wenn ich sie besuche, bin ich wieder ein Teil davon.
Sina war mir aufgefallen, wie sie alleine an einem Zweiertisch saß, vor sich eine Kanne Ingwertee und wie sie sehr konzentriert etwas in ein Heft schrieb, Seite nach Seite, mit einem Stift und mit der Hand, wer macht das heute noch? Sie hatte ihre schweren Wanderschuhe ausgezogen, die nun achtlos unter ihrem Stuhl auf dem Boden lagen, sie trug bunte Wollsocken, geringelt, bestimmt selbstgestrickt.
Was bedrückend ist, wenn ich meine Familie besuche? Das ist eine gute Frage. Dass ich mich manchmal eingeengt fühle, Erwartungen an mich spüre, aber auch selbst Erwartungen habe, wie es meinen Eltern geht, alleine und zusammen, wie es meinen Geschwistern geht. Und dann die Erinnerungen, die zum Teil schmerzhafte Erinnerungen sind, weil ich von meinen Eltern schon im verbalen und emotionalen Sinne verletzt wurde, genauso wie ich von meinen Eltern gestützt und getragen wurde. Dass man in der Familie so viele Ecken und Kanten zulässt, das gibt Struktur, woran man sich halten kann. Man muss nicht viel sagen, man muss nicht kompliziert erklären.
Freundschaften sind gut, natürlich, aber meine Eltern kennen mich einfach am besten, da kann ich mich nicht verstecken. Vor allem bin ich meinen Eltern nicht nachtragend gegenüber, egal, was sie machen, egal, was sie sagen. Das gibt mir mega-viel Freiheit. Und die kommt ihnen zugute und die kommt mir zugute, in Freundschaften besteht diese Bedingungslosigkeit nicht.
Und es fühlt sich entschleunigend an bei meinen Eltern zu sein. Vor allem, wo ich ausgezogen bin und nicht mehr mein Zimmer habe: also ich habe ich dort nicht mehr meine Sachen, an denen ich arbeiten könnte, wenn ich zu Besuch bin, ich kann nichts sonst tun. Ich habe Zeit zuzuhören, da zu sein, zu erzählen und zu sprechen, auch wenn ich mir manchmal ein Buch zum Lesen mitnehme oder etwas zu stricken. Ich weiss, dass es meine Eltern nicht gerne sehen, wenn ich am Handy bin, und das zwingt mich meinem Bedürfnis nicht am Handy zu sein, nachzukommen.
Und dann das Teilen von gemeinsamen Erlebnissen: Ich weiss, wenn ich Geschichten aus meinem Alltag oder gemeinsam Erlebtes von früher erzähle, dass mein Vater darüber lachen kann. Mit ihm zu lachen, macht mich glücklich. Der Humor verbindet uns.
Ich durfte schon früh lernen, dass ich nicht für das Glück anderer verantwortlich bin, auch wenn ich sie liebe. Wahrscheinlich sind wir Menschen Gewohnheitstiere, die sich zwar anpassen können, die aber auch das Gewohnte lieben.
Sina sitzt an dem runden Tisch mitten im Café, „Reserviert ab 15.15 Uhr für Sarah“ ist auf einem kleinen Aufsteller zu lesen. Aber Sarah kommt nicht, und wir können ein wenig länger sitzen bleiben und das ist schön.