Heimspielnachmittage

Komme ich an, ist Pfupf schon da. Ich brauche ihn gar nicht erst anzurufen, ich weiss, wo ich ihn suchen muss, bei den Stehplätzen natürlich, Höhe Mittellinie, nur ein bisschen mehr zum Gästesektor hin. Nicht selten wartet er dort mit Sigi auf uns, seinem Vater, der wie wir eine Saisonkarte hat, der an einem Heimspieltag oft gern mit uns loszieht und der dabei gewesen sein muss, als Pfupf zu seinem Spitznamen kam.

Es war seine grosse Schwester, die ihn als kleinen Jungen so nannte, «Pfupf». Niemand hätte damals gedacht, dass ihm dieser Name bleiben würde. Doch dass ihm dieser Name blieb, dass wir ihn heute, obwohl er so gar nicht mehr klein ist, noch immer alle so nennen, hat auch viel mit ihm selbst zu tun. Denn er selbst stellt sich heute noch so vor, er selbst nennt sich heute noch immer so, «Pfupf».

Pfupf pflegt Gewohnheiten. Und darum weiss ich, dass er, wenn ich ankomme, schon da ist. Aber der Letzte, der bin ich meist nicht. Auch die andern, weiss ich, haben ihre Routinen. Die anderen, das sind zum Beispiel: Marcel, der Webdesigner, oder Chrigi, der Künstler. Wobei Chrigi – er ist übrigens wirklich Künstler und wir nennen ihn nicht nur so – nicht regelmässig zum Match kommt.

Wir sind ungefähr zu siebt, mal sind es etwas mehr, mal etwas weniger. Da ist noch der FC-St.-Gallen-Fan, der ehemalige Blick-Sport-Journi. Und Matthias, der Architekt. Ich bin der Götti seiner Tochter. Matthias und ich wohnen in Züri. Wir kommen beide, wenn der FCW spielt, nach Winti zurück, dorthin, wo wir aufgewachsen sind, dorthin, wo alles begann. Einen Fussballclub kann man sich nicht auswählen.

Von den zehn Heimspielen in dieser Saison war ich vielleicht an sechs oder sieben. Ich bin kein ultra-fanatischer FC-Winti-Fan, das nicht. Aber seit siebzehn Jahren zieht es mich ich an Heimspielnachmittagen regelmässig an die Schützi. Meistens hole ich in Wiedikon am Kiosk, wenn ich dort aufbreche, schon ein erstes Bier. Reise ich mit Matthias, ist es in Winti oft schon ausgetrunken, und wir kaufen uns, wenn wir hier ankommen, am Bahnhof ein zweites. Und der Nachmittag nimmt seinen Lauf.

In unserer Fangruppe ist es, wie es in jeder Gruppe mit Bestand ist. Alles hat seinen Platz. Es gibt Gewohnheiten. Es gibt Rituale. Es gibt Adjektive, «routiniert» ist so eines. Und ja, es gibt Rollen. Pfupf ist der Zuverlässige. Unser Sportjourni ist unser fussballerisches Gedächtnis. Und ich, ich sorge manchmal für Gesprächsstoff, recherchiere, wenn der FCW aufläuft, via SRF-App die Aufstellung. Auch hole ich das Bier. Ich hole es, wenn der Match schon läuft.

Manchmal passiert es genau dann, der FCW schiesst ein Tor oder bekommt eines oder schiesst fast ein Tor oder bekommt fast eines. Ja, wenn etwas passieren soll, muss ich – obwohl ich sonst nicht rauche – eine Zigi rauchen, Bier holen oder auf Toilette gehen. So greife ich – jedenfalls glauben wir das zuweilen, jedenfalls wollen wir das zuweilen ein bisschen glauben – ins Matchgeschehen ein.

Matthias kenne ich schon seit Jugendjahren, ich kenne ihn durch Pfupf und Chrigi. Sie gingen zusammen ins Gymi. Mit Pfupf und Chrigi wiederum ging ich in die Sek. Man kannte uns damals eigentlich nur zu dritt, Pfupf, Chrigi und Tobi. Wir waren ein Team.

Heute kommen wir, Pfupf, Chrigi, die anderen und ich, an Donnerstagabenden zusammen, um Hallenfussball zu spielen. Pfupf – natürlich er – hat die Halle für uns organisiert. Und an Heimspielnachmittagen schauen wir uns eben den Match an. Wobei Chrigi, wie gesagt, nicht ganz so regelmässig da ist, weil er keine Saisonkarte hat. In meiner Erinnerung verschmelzen all diese Heimspielmomente zu einem einzigen ewig langen Fussballnachmittag.

Klar, ein paar wenige Momente gibt es dann schon, die hervorstechen. Als sie vor der Winterpause den FCZ schlugen und aufstiegen, war natürlich so ein Moment. Wobei das eh speziell war, weil es ja kein Heimspiel war.  Es war ein Auswärtsspiel, und wir sahen es uns alle zusammen bei Pfupf im Garten an. Wir palaverten, wie wir gerne palavern. Und die Optimisten unter uns haben auf einen Aufstieg via Barrage gehofft. Doch an einen Direktaufstieg glaubte eigentlich so gut wie niemand. Es war, als es passierte, als es wahr wurde, als es wirklich wahr wurde, p-h-ä-n-o-m-e-n-a-l.

Ansonsten knüpfe ich, wenn ich nach Winterthur fahre, dort an, wo ich letztes Mal aufgehört habe. Manchmal ertappe ich mich, wie ich mich wie meine Eltern anhöre. Immer öfter verschätze ich mich, wenn es darum geht, einem Ereignis die korrekte Jahreszahl zuzuweisen. Grad kürzlich war ich, als ich mit Pfupf und den anderen über unsere letzte Hamburg-Reise sprach, überzeugt, dass sie etwa fünf Jahre her sein musste. In Tat und Wahrheit war es schon über zehn Jahre her, schon über zehn Jahre! Die Jahre zwischen dreissig und vierzig, sie vergingen wie im Flug.

In den immer wiederkehrenden Fussball-Nachmittagen findet Tobias ein Zuhause.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.