Auf der Strasse rief mir Anna immer „Hallo Jesus“ zu. Sie ist Portugiesin und wohl religiös erzogen worden. Wieso ich sie an Jesus erinnerte, war mir nie ganz klar. Ich habe sie nie gefragt. Vielleicht war es mein langes Haar, vielleicht mein schwarzer Bart, der sie, sobald sie mich erblickte, an den Heiland höchstpersönlich denken liess.
Naja, wie auch immer. Kamen wir uns entgegen, rief sie es mir immer schon von weitem zu. Sie winkte und lachte ihr heiseres Lachen, das jederzeit in einen Hustenanfall münden konnte. Bis wir uns dann gegenüberstanden, verging eine kleine Ewigkeit, in der wir beide etwas verschämt zur Seite blickten.
Standen wir uns aber endlich gegenüber, sprachen wir über alles Mögliche. Wir verglichen Supermarktpreise und gingen dabei sämtliche Warengruppen durch, oder wir sprachen über die Arbeit, die immer zu beschwerlich ist, weil sie sonst keine Arbeit wäre.
In den Wochen vor meinem Umzug haben sich unsere Wege nie gekreuzt. Alles ging so schnell, und ich konnte mich gar nicht richtig von ihr verabschieden. Klar habe ich gewusst, wo sie wohnt. Aber einfach bei ihr zu klingeln konnte ich mir nicht vorstellen. Ich weiss gar nicht, ob ich ihr überhaupt richtig erzählen konnte, dass ich wegziehe.
Weil ich am neuen Ort den Werbung-nicht-erwünscht-Kleber noch nicht an meinem Briefkasten angebracht habe, lag diese Woche eine Supermarkt-Broschüre drin. Ich musste sofort an Anna denken. Ich hoffe, es geht ihr gut. Bei Denner kostet die Literpackung Vollmilch jetzt nur einen Franken zwanzig. Ich hoffe, sie hat das auch gesehen.
René erinnert sich an seine ehemalige Nachbarin Anna. Und an ihre Gespräche über Supermarktpreise.