Fontaunas clar resunan

Nach dem Studium haben wir uns getrennt.
Recht schnell haben wir uns aus den Augen verloren.
Aber unsere gemeinsame Zeit davor – es waren die Siebziger, Studienzeit in Basel – die war…, die war eine unglaublich schöne Zeit.
Eine Zeit, die uns niemand mehr nehmen kann.
Er studierte Medizin, ich Architektur- und Kunstgeschichte. In den Ferien und an den Wochenenden waren wir in den Bergen unterwegs. Mit der Vespa fuhren wir durch die halbe Schweiz.
Wir waren beide gute Berggänger. Und machten in wechselnden Gruppen anspruchsvolle Hoch- und Klettertouren.
Ich liebte das Klettern.
Wer klettert, sucht den Weg durch den Felsen, visiert den nächsten Tritt an, ertastet den nächsten Griff, es gibt nichts anderes. Und man muss aufmerksam sein, und völlig in der Balance. Kletterte ich, war ich immer ganz im Moment, ganz da. Da war Clau, da war ich, da war die Sonne im Gesicht und der warme Fels unter meinen Händen.
Die Flechten am Stein leuchteten. Und dieser zarte Duft.
Am Abend sangen wir wunderschöne rätoromanische Lieder.
Fontaunas clar resunan,
uals si cuolm naschi

40 Jahre lange hatten wir keinen Kontakt, Clau und ich.
Vier Jahrzehnte hörten und sahen wir uns nicht.
Erst als ich eine Studienkollegin aus jener Zeit, die Marlis, wieder traf und von Claus schwerer Lungenkrankheit hörte, beschloss ich ihn anzurufen.
Marlis hatte seine aktuelle Nummer.
Clau wohnte wieder im Bündnderland.
Und als ich ihn anrief, fühlte es sich richtig an. Ich nahm den Hörer ab und wählte seine Festnetznummer.
Es freute ihn sehr, mich zu hören. Er freute sich so sehr, wie ich mich freute.
Sofort konnten wir anknüpfen an unsere guten alten Zeiten.
Wir erinnerten uns an gemeinsame Bergtouren. Beide, das wurde mir im Gespräch schnell klar, hüteten wir die Erinnerung an die gemeinsame Zeit wie einen kostbaren Schatz.
Am Telefon hörte ich aber auch, wie Clau Probleme mit dem Atmen hatte. Immer wieder schnappte er nach Luft, immer wieder musste er beim Sprechen Pausen einlegen, um Kraft für seine Sätze zu sammeln.
Ein Jahr, nachdem ich ihn wieder kontaktiert hatte, starb er.
Ich habe ihn nie mehr getroffen.
Ich habe ihn nie mehr gesehen.
Er wollte nicht, dass ich ihn, so krank wie er war, sah. Er wollte, dass ich ihn so in Erinnerung behielt, wie er früher war.
Aber telefonieren, das taten wir drei-, viermal noch.
Wir redeten und lachten zusammen.
Immer waren es gute Momente, wenn auch manchmal ganz kurze, weil Clau sich bald wieder erholen musste.
Ich bin dankbar, dass wir uns noch sagen konnten, wie wichtig unsere Zeit für uns beide war, und wie schön und voll die Erinnerung daran.
Und ich freue mich, dass ich ihn noch fragen konnte, wie es weiter ging, jenes wunderschöne Lied.
Ich habe es jetzt aufgeschrieben.
Und singe es oft.

Fontaunas clar resunan,
uals si cuolm naschi,
a val ei sesparunan
e creschan mintga di;
ei trai favugn mitgeivel,
ei dat sulegl bi clar,
quei ei il temps legreivel
schi bials per viagiar.

Johanna, 75

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.