Die Symmetrie eines Tagtraums

Wenn es geht, mache ich ein Mittagsschläfchen.

Sicher für eine halbe Stunde lege ich mich nach dem Essen im Wohnzimmer auf die Couch oder auf eine Yogamatte am Boden. Um meinen Tinnitus zu übertönen, lasse ich eine Playlist mit ruhiger, akustischer Musik laufen. Und decke mich zu.

Unter der Decke bringe ich meinen Körper mit kleinen Bewegungen in Position, bis ich so daliege wie Tutanchamun in der Grabkammer, mit vor der Brust verschränkten Armen, den Kopf ganz gerade. Diese fast symmetrische Ausrichtung meines Körpers ist mir sehr lieb, tagsüber fast noch lieber, als wenn ich mich für die Nacht einbette. Vielleicht, kann sein, mag ich diese etwas rigide Haltung auch, weil sich mein Körper in dieser Starre auflöst, oder besser gesagt: Weil sich mein Körper darin nicht vereinzelt. Denn: Wenn ich da so liege, wie ich liege, spüre ich nicht meine beiden Arme, nicht meine beiden Beine, nicht meinen Rumpf. Nein, ich denke, dass ich nur mich spüre, als Ganzes, und die Wärme über und unter mir. Vielleicht träume ich auch deswegen während meines fast körperlosen Mittagsschlafes besonders oft vom Fliegen.

Ach, ich liebe es, dieses Mittagsschläfchen. Ich mache es schon seit jeher, und man kann ruhig sagen, ich sei ein Verfechter davon. Wobei es manchmal schon ein kleines Wagnis ist, für sein Mittagsschläfchen einzustehen: Wer zu laut damit prahlt, dem wird oft misstraut. Und das ist, denke ich, auch nicht nur verkehrt so. Ich meine, allen würde ich jetzt auch nicht von meinem Tagesschlaf erzählen. Einem Büezer, der gerade eine Strasse teert, der gerade keine Möglichkeit hat, sich über Mittag aufs Ohr zu legen, dem muss ich meine Siesta definitiv nicht unter die Nase reiben. Und dennoch: Für mich ist dieser Moment heilig, und was ihn für mich heilig macht, ist gerade auch – die Helle im Zimmer.

Wenn ich die Augen schliesse und Tageslicht durchs Wohnzimmerfenster auf meine geschlossenen Lider fällt, fühle ich mich schon etwas wie der König der Welt. Das helle Licht beim Einschlafen ist es, das mir bewusst macht, dass ich hier etwas ganz Kostbares habe. Und das helle Licht beim Einschlafen ist es auch, das mir die Gewissheit gibt, beim Aufwachen wieder schnell in den Tag zurückzufinden. Und, ja, so wie mir das Licht lieb ist, liebe ich auch die Geräusche. Ich mag es sehr, beim Eindösen den mir zumurmelnden Wasserleitungen zu lauschen, ich mag es sehr, wenn die Geräusche des Tages durchs offene Fenster von der Strasse heraufziehen. Angst, etwas vom Leben da draussen zu verpassen, habe ich kaum je. Und dafür bin ich dankbar, dass ich das nicht kenne, diese Angst, dass ich abschalten und bei mir bleiben kann. Und ich weiss nicht, ich denke, das zu können, ist schon auch eine Frage der Persönlichkeit.

Klar: So schwarzweiss wie in unseren Köpfen ist das Leben nie. Aber was ich damit meine: Es gibt sie eben schon, jene, die etwas mehr im Moment leben als andere. So etwas wie eine Veranlagung dazu, ja, glaube ich, mag es geben. Ich jedenfalls eile meinem Leben selten voraus, selten kommen in mir so richtige Gefühle für die Zukunft hoch. Höchstens dann, wenn sie unmittelbar bevorsteht, wenn die Zukunft schon begonnen hat. So verspürte ich als Kind – anders als die meisten meiner Schulkameraden – erst im Bus zum Ferienlager so etwas wie Vorfreude. Klar, hat das Vor- und Nachteile. Klar, kann ich mir die Zukunft schon auch irgendwie ausmalen. Aber: Wenn ich am Tisch sitze und mir Bilder durch den Kopf schiessen, sind es immer Bilder aus der Vergangenheit. Über die Zukunft denke ich hingegen, wenn ich das nicht forciere, kaum je. Was Freunde, glaube ich, manchmal etwas irritiert. Sie fragen dann Dinge wie: Freust du dich nicht auf unseren Urlaub?

Wenn ich mich am Mittag hinlege und zudecke, macht es mir jedenfalls die Augen zu. Ich schlafe rasch ein. Beim Hinabstieg in meinen Traum begleiten mich dann noch Gesprächsfetzen und Bilder vom Morgen. Ich nehme sie dorthin mit, wo aus diesen Bildern ein Film wird, ein Film, aus dem ich später, wenn ich dann wieder aufwache, hinaustreten werde wie aus einem Zimmer. Es ist mir, als verarbeite ich in diesen Filmen mein Leben im Traum. Mein Mittagsschläfchen ist so etwas wie eine grosse Filtermaschine. Und wenn ich meinen Mittagsschlaf halte, ist es mir, als rücke mein Erwachsenenleben wieder etwas näher an meine Kindheit.

So erinnere ich mich noch sehr gut daran, wie mein Vater während meiner Kindheit sein Essen am Mittagstisch in aller Eile hinunterschlang, getrieben von der Vorfreude auf sein Mittagsschläfchen. Ja, das Mittagsschläfchen war schon in meiner Kindheit eine Institution. Kaum fertig mit dem Essen, legte sich mein Vater auf das Sofa im Wohnzimmer. Nach zehn Sekunden schon hörte ich ihn schnarchen. Und wohl ahnte er damals nicht, wie diese Mittagszeit, dieses gemeinsame Essen, diese Mittagsruhe, sein Schläfchen für uns alle ein Fixpunkt im Tag war. Es waren Rituale wie diese, fernab von Leistungssport und Schuldruck, es war diese sorglose Selbstverständlichkeit, die für mich Geborgenheit und Familie bedeuteten. Als Kind war diese Ordnung für mich sehr wichtig. Und in gewisser Weise ist sie es noch immer.

Der 37-jährige David erzählt mir – von seinem Mittagschlaf.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.