Die Staubsaugerstimme

Noch etwas fällt mir ein, wo wir hier reden, also du mir zuhörst, Entschuldigung, dass ich gedanklich so springe, aber du wirst da schon was draus machen, und ich hoffe, es ist interessant genug: Jedenfalls, nach einer Trennung habe ich das erste Mal allein gelebt. Und das war ein schwieriger Prozess:  Ich brauchte drei Jahre, um zu lernen, allein zu leben. Und dann hatte ich mich allmählich in das Alleinleben eingewöhnt, fand es auch ganz schön, diese Wohnung war mein Zuhause geworden, und an freien Tagen machte ich mir mit grosser Liebe einen Frühstückstisch. Mit gekochtem Ei und frischen Brötchen und Marmelade und Aufschnitt, und das für mich ganz allein, sehr liebevoll gedeckt, die Zeitung dabei. Da sass ich einmal an diesem Tisch und stellte fest: Der Teppichboden ist nicht sauber. Und die eine Stimme in mir sagte: «Bevor ich jetzt frühstücke, mache ich den Teppich sauber, es stört mich in meinem Empfinden, stört mein Wohlbefinden. Und die Gegenstimme sagte: «Bist du verrückt? Du frühstückst erst mal, mach das später, das Ei wird kalt, der Tee wird kalt.» Wer hat gewonnen? Gewonnen hat die Staubsaugerstimme, die Sauberkeitsstimme …

Freiheit bedeutet Chaos. Und Freiheit bedeutet Ordnung.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.