Die giftgrüne Kiste

Ich habe da so eine Holzkiste im Keller. Sie ist giftgrün. Und sie ist: s-c-h-e-u-s-s-l-i-c-h! Vor zwanzig Jahren habe ich dieses hässliche Ding von meiner Vormieterin geerbt, als ich in ihre Wohnung an der Neustadtgasse einzog. Meine Vormieterin wollte unbedingt ein paar Dinge loswerden. Und ich wollte unbedingt ihre Wohnung. So traute mich nicht, nein zum Krempel zu sagen, den sie nicht mehr wollte. Ich übernahm fast alles, was sie ausstauben wollte. Ihr grosses Bett, das nicht durch das enge Treppenhaus passte, wurde mein Bett. Und ja: Auch diese giftgrüne Kiste übernahm ich mit dem festen Plan, sie zu entsorgen. Es blieb, wie allzu vieles in meinem Leben, aber beim Plan.

Weil ich nicht zu ihm ziehen wollte, trennte sich mein Freund ein paar Wochen vor dem Umzug von mir. Ich war erst völlig überrascht, dann enttäuscht, und schliesslich versank ich in eine tiefe Trauer. Ich hatte den Mietvertrag unterschrieben, doch die wunderschöne Wohnung hatte ihren Glanz verloren, bevor ich eingezogen war. Ich wusste erst nicht mehr, ob ich überhaupt noch umziehen sollte, hatte dann aber erkannt, dass, wenn ich in der alten Wohnung bleiben würde, mein Freund deswegen auch nicht zurückkommen würde. So ging ich. In die Neustadtgasse. In ein, wie ich hoffte, neues Leben.

Beim widerwilligen Einräumen der Bücher in die Umzugskartons bin ich vorher aber noch auf seine Liebesbriefe gestossen. Ich konnte sie nicht mehr lesen, aber auch nicht wegwerfen. Zusammen mit den Muscheln vom gemeinsamen Strandurlaub auf Sardinien habe ich sie, weil ich keinen anderen Ort dafür gefunden habe, in die giftgrüne Kiste gelegt. Später habe ich alles dort hineingelegt, was mich mit Alex verband. Nur meine Leere war zu gross für die Kiste.

Dann kam der Umzugstag. Das Erste, was ich in die neue Wohnung trug, war die Kiste. Ich versteckte sie im hintersten Eck des Kellers. Und dort ist sie noch heute. Im Keller. Wenn auch in einem anderen Keller als damals. Die Wohnungen und die Freunde wechselten seither ein paarmal. Doch die Kiste, die bleibt. Und sie bleibt im Keller. Ziehe ich um, schleppe ich sie aus dem Keller hoch, wische sie mit einem Lappen ab und schleppe sie am neuen Ort wieder in den Keller. Sie bleibt geschlossen. Nur alle paar Jahre öffne ich sie, um neue Briefe darin zu verstauen, um ein nächstes Kapitel in meinem Leben zu schliessen.

Die 42-jährige Andrea erzählt über die Kiste im Keller, die sie „Erinnerungskiste“ nennt.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.