Der schönste und glücklichste Moment meines Lebens dauerte etwa eine Stunde

Der schönste und glücklichste Moment meines Lebens dauerte etwa eine Stunde, es war schönstes Glück, ein besonders schöner Moment, ein kathartischer Moment, nicht nur schön, sondern wirklich zutiefst aufwühlend, Richtung absolutes Glück, tiefer kann man das glaube ich gar nicht erleben, 16 Jahre alt war ich damals, am Boden liegend, in Tränen aus höchstem und aufwühlendstem Glück aufgelöst, in einem evangelischen Lehrerseminar in Zürich Unterstrass, im zweiten Ausbildungsjahr, in einem Musikzimmer, das immer offen war, mit einer Plattensammlung in einem Schallplattenschrank, der stets unabgeschlossen und immer zugänglich war, und ich bediente mich einer Platte, von der mir der Musiklehrer schon etwas erzählt hatte, und diese Platte war eine Aufnahme der 30 Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach, zwei Jahre vorher – 1955 – auf dem internationalen Markt erschienen, in einem Stil gespielt von einem absoluten, damals schon legendären und wohl legendärsten Pianisten des 20. Jahrhunderts, aus Kanada, er hieß Glen Gould, und ich lag da am Boden und hörte diese Aufnahme, 16 jährig, das war der 3.9.1957, und diese Aufnahme erschütterte mich zutiefst, diese Schönheit, diese absolute Schönheit, dieses Hör-Erlebnis prägte mich für mein ganzes Leben, ich verfiel mit Haut und Haaren der Musik von Johann Sebastian Bach, seinen Klavier- und Orgelwerken, seinen Passionen und Oratorien und Kantaten, als Querflötist dann auch seinen Flöten-Solo-Werken, ich hatte erst ein Jahr Klavierunterricht, ich hörte da Klavierkunst auf dem allerallerbesten Niveau, und nun hörte ich eine Komposition auf allerallerallerhöchstem Niveau, auf dem Boden liegend, eine legendäre Komposition, über die sich die Experten ziemlich einig sind, das es großartig ist, was Bach da für das Klavier komponiert hat, 30 Variationen, über einen gleichen Bass, und dieser Pianist spielte das, auf der Platte, 33 Touren, Vinyl, und ich war ganz tief heruntergeworfen vor Glück, absolutes Glück, ich lag da am Boden, ein Holzboden oder vielleicht war es auch Linoleum, ich lag da eine ganze Stunde lang während dieser Darbietung, all die Variationen, und habe dann sofort, am gleichen Tag noch, glaube ich, oder Tage später nach jenem Erlebnis in der Lehreranstalt die Noten im Musikgeschäft der Stadt gekauft, und habe noch am selben Tag oder am nächsten Tag mit dem Erarbeiten der ersten Variation begonnen, es war die 23ste, mit zwei Fingern, und sie haben mich dann nicht mehr losgelassen, lebenslänglich arbeitete ich weiter an diesem genialen, wundervollen Klavierwerk, mein ganzes Leben, in dem ich dann noch Flötenstudien machte, eine Reallehrerausbildung machte, unterrichtete, auf der Oberstufe, sie haben mich nicht mehr losgelassen, so dass ich im Jahr 2000 eine äußerst beglückende Zielgerade erreichte, wo ich, etwa 60-jährig, Bach feiern konnte, es wurde Bachs 250tes Todesjahr zusammen mit seinem 325ten Geburtsjahr begangen, und ich hatte unterdessen auf dieser Zielgeraden alle 30 Variationen sowohl intus als auch einem kleinen Publikum dargeboten, bis heute denke ich an die Nummer von einer Variation und höre die ganze Variation, ich muss es mir nur vorstellen und dann ist die Musik in mir und die Gefühle beginnen sich zu bewegen, die Platte blieb im Seminar, ich habe mir die Platte später gekauft, aber nur selten gehört, ich kannte niemanden, der solche Momente hatte, bei der Flöte, ja, aber da spielte man das Flötenwerk, ich selber hatte dann auf der Flöte ähnliche Momente, aber meinen Schülern gegenüber kam das nie zur Sprache, ich habe das niemandem erzählt, auch meinen beiden Ehefrauen gegenüber habe ich das für mich bewahrt, da waren andere Dinge im Vordergrund, reden oder nicht reden, das, was ich erlebt und gehört hatte, war in meinem Herzen tief für mich aufbewahrt in einem Tresor, es gab auch Pausen, es gab auch drei Jahre lange Pausen, und dann ging es wieder ein Stück vorwärts, nach langen Jahren, in denen mich diese Werke, die Variationen, nicht beschäftigt haben, stattdessen Flötenkompositionen und Flötenglücksmomente, bis hin zur Zielgeraden in diesem ominösen Jahr 2000, für das ich meine Hommage an Bach vorbereitet hatte, ich musizierte meinen Flötenunterricht, nahm aber nur noch wenige Schüler, nahm von meiner Schwester einen 10.000 Franken-Kredit auf, um zu überleben, schaffte dann noch die letzte Variation bis zum Einüben und Aufführen des Ganzen, das war in einem kleinen Zimmer in einer Kirche in Winterthur, unterbrochen von einer Literatur-Rezitation, dem berühmten Roman von Gottfried Keller „Der grüne Heinrich“, nicht das ganze Buch natürlich, nur die ersten sieben Seiten, in Auszügen, und dann spielte ich wieder die Variationen, etwa vielleicht 20 Zuhörer waren da oder auch etwas mehr, Bekannte und nicht Bekannte, mehr waren das nicht, ohne mich vorher einzuspielen, gleich vom ersten Ton an war ich bereit,
ein kleines Publikum ist auch gut, die Idee, ein Saal muss voll sein, die hatte ich nicht, die hatte ich nie, ich hatte schon vorher Erfahrungen mit kleinem Publikum mit meinen Flötenkonzerten, die ich noch machte, in Kirchen, und nein, um Spiritualität, um Glauben ging es mir da nicht, die Akustik ist einfach gut, eine mittelgroße Kirche hat eine gute Akustik für ein Flötensolo, Sie haben bestimmt noch nie ein Flötensolo gehört, schon immer waren Flötenkonzerte nicht in Mode, sie waren schon immer außerhalb der Zeiten der Menschen, automatisch hat mich das gereizt, diese Musik, seit frühester Jugend, einen tiefen Eindruck hat daher auch eine Flötensoloplatte hinterlassen, die ich immer wieder mit größtem Vergnügen hörte, eingespielt von meinem damaligen großen Flötenlehrer – Peter-Lukas Graf, der wurde ein internationaler Superstar, haben Sie schon mal von ihm gehört?, von Peter-Lukas Graf, nein, das dachte ich mir, und ja, man könnte so sagen, Musik ist mein Leben, obwohl ich nur teilweise meine Erwerbstätigkeit damit bestritten habe, als Flötenlehrer, immer Einzelunterricht, daneben noch Volksschullehrer vorher und danach, mit allen Fächern, danke.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.