Der lange Weg

Denke ich daran zurück, sehe ich mich auf diesem Spielplatz. Ich sehe dieses Bild vor mir, von dem ich nicht weiss, was davon Wirklichkeit, was Fantasie ist. Ich bin vier Jahre alt und forme Kuchen aus feuchtem Sand. Ich sehe, wie ich ihn erst nicht sehe, wie er auf mich zurennt. Wie ich ihn erst nicht höre, wie er mir zuruft. Erst als er atemlos neben mir steht, Martina, Martina wiederholt und mich in den Arm nimmt, Papa, sehe ich ihn, Papa, Papa.

Zuvor hat er mich und meine Schwester wochenlang gesucht. Er muss viele Winterthurer Spielplätze nach uns abgeklappert haben. Mama hatte an einem Nachmittag die Koffer gepackt, meine ältere Schwester und mich an die Hand genommen, und wir sind gegangen und nie wieder zurückgekommen. Ich habe damals nicht verstanden, wieso wir gehen mussten. Heute weiss ich, dass Papa sehr eifersüchtig war. Er soll Mama geschlagen haben. Ob das stimmt, weiss ich nicht. Sicher hatte er als Süditaliener – er war damals noch gar nicht so lange in der Schweiz – andere Werte, andere Gewohnheiten, sicher hatte er eine ganz andere Vorstellung von Familie als Mama.

Als Kind aber habe ich nur verstanden, dass wir von nun an zu dritt leben sollten, ohne Papa. Nur Mama, meine Schwester und ich. In dieser Wohnung ohne WC. Es war die Bedienstetenwohnung im Kinderheim, in dem Mama arbeitete. Ach, Papa. Manchmal frage ich mich, wieso das alles so kommen musste.

Und dann ist da dieses zweite Bild, das ich durch die Jahre trage. Konzentriere ich mich, sehe ich ihn vor mir, diesen langen, unendlich langen, geraden Weg in den Kindergarten. Ich sehe mich, wie ich mich, Schritt für Schritt, den Weg entlang, zum Kindergarten hin, zwinge, dorthin, wo ich auf keinen Fall hingehen will. Ich versuche, nicht zurückzublicken, wo ich das Kinderheim, unser neues Zuhause, sehen würde. Will ich nicht wieder dahin zurückrennen, will ich nicht wieder von Mama dafür abgestraft werden, muss ich jetzt einfach geradeaus gehen, stur geradeaus, Schritt für Schritt. Ich hatte, wie ich heute weiss, Angst, dass Mama nicht mehr da sein würde, wenn ich wieder nach Hause käme. So wie Papa vom einen auf den andern Tag einfach nicht mehr da war.

Dabei hatte ich Papa immer schon lieber als Mama. Klar war er nicht oft da. Klar hatte er viel gearbeitet. Aber wenn er da war, nahm er mich in den Arm. Mama tat so etwas nie. Mama konnte Zuneigung schlecht zeigen. Wenn ich sie umarmen wollte, sagte sie immer: „Tue nöd so chlebrig.“

Mama hätte nie Kinder haben sollen. Sie war viel zu jung. Und auch sonst war sie einfach nicht der Typ dazu. Auch wenn ich, denke ich heute daran zurück, ihre abenteuerliche Art irgendwie mag, war es für uns Kinder kein gutes Umfeld. Ich weiss noch, wie wir Tisch und Stühle aus einem Gartenrestaurant klauten. Ich musste ihr helfen, die Dinge wegzutragen. Ich ging damals in die Primarschule. Manchmal ist Mama mit uns zusammen in verlassene Häuser eingestiegen. Meine Schwester und ich haben gespielt, während Mama sich umsah. Das ist dann auch so ein Bild: Ich sehe mich, wie ich in einem kaputten Haus auf einer liegengelassenen Schreibmaschine herumtippe.

Naja, ich hätte noch viel erzählen, wie das damals war mit Mama, meiner Schwester und mir, davon, wie meine Schwester und ich am neuen Ort dann immer Quatsch gemacht haben, davon, wie wir beide kurz nach dem Umzug ins Kinderheim aus dem Fenster im dritten Stock gepinkelt haben, weil es in der Wohnung ja eben kein WC gab und weil uns Mama, während sie arbeitete, dort eingeschlossen hatte. Doch ich muss jetzt los, es tut mir wirklich leid, ich muss zu meinem Sohn und meinen Enkeln gehen. Ich hätte noch so viel zu erzählen. Es tut mir leid. Das war jetzt erst meine aller-, allererste Zügelgeschichte. Ich bin in meinem Leben vielleicht schon zwanzig Mal umgezogen. Und jeder einzelne Umzug hat seine ganz eigene Geschichte.

Es war nicht sie, die über Wegzug oder Bleiben entscheiden konnte, sie war damals vier Jahre alt. Und es ist Martinas erste Zügelgeschichte in ihrem Leben.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.