«Das Schlimme daran ist nicht das Weggehen»

Schaue ich in meiner Wohnung aus dem Fenster, sehe ich den Weissenstein, den Hausberg der Stadt Solothurn. Wenn man ganz genau hinschaut, sind die Gondeln zu erkennen, die wie kleine Stecknadeln durch die Luft schweben. Heute ist die Sicht wolkenverhangen. Ich mag diese bittersüsse Herbststimmung, sie macht mich ruhig. Die Nachbarn gegenüber packen ein Kinderbett aus dem Auto und tragen es ins Haus. Ich stehe am Fenster und beobachte diese Szene.

Bei den Nachbarn beginnt eine Geschichte, die bei uns bald definitiv zu Ende geht. Meine Kinder sind alle bald erwachsen. Irgendwann werden sie ausgezogen sein. Unser Gitterbettchen habe ich bei einem meiner letzten Umzüge weggeworfen. Als ich realisiert habe, dass da drin nie wieder ein Baby liegen wird. Meine Kinder verdienen genug Geld, sie würden sich neue, hübsche Betten kaufen, in Farben, die zu den Kinderzimmern passen. Sollten sie denn Kinder haben. Sinnlos also, dieses alte, an manchen Ecken abgeschabte und behelfsmässig geflickte Ding nochmal mitzunehmen. Und wieder einmal wundere ich mich, mit welchem Tempo dieses Leben mir vorausrennt.

Und während ich jetzt aus dem Fenster schaue, stehen hinter mir Schachteln gestapelt bereit, die Schränke sind demontiert, die Löcher in den Wänden mit Kitt gefüllt. Am Samstag werden wir umziehen. Zum dreizehnten Mal.

Meine Umzüge geschahen nie freiwillig. Auch dieser Umzug jetzt nicht. Doch eigentlich wollte ich mein Leben lang immer nur eines: Ankommen, einnisten und bleiben. Für immer. Doch das Leben hat solche Szenarien für mich nicht vorgesehen.

Das Schlimmste ist nicht das Weggehen. Aber sobald ich weiss, ich muss weg, sobald da an irgendeinem Tag ein Mensch, der Vermieter, vor der Tür steht und dich mit einem Satz heimatlos macht, dann ist es genau dieses Gefühl, dieses Heimatlossein, das mich von Innen nach Aussen einfriert. Leer macht, und stumm. Und dann streune ich wie eine ausgesetzte, hungernde Katze durch Gassen und Strassen und halte Ausschau nach unbewohnten Liegenschaften. Es treibt mich um, macht mich leer, wenn ich nicht weiss, wo ich in ein paar Wochen leben werde. Und ich schaue neidvoll in erleuchtete Wohnzimmer, auf Menschen, die bleiben können.

Wenn ich erfahre, dass ich gehen muss, beginnt in diesem Moment jedoch das Loslösen von den bewohnten Räumen. Abschliessen, Weggehen, das fällt mir mittlerweile leicht. Ich hänge mich schon lange nicht mehr an Wohnraum. Diese Wände, die Küche, mein Schlafzimmer – alles bereits Vergangenheit. Wenn ich gehe, werde ich mich bei ihnen bedanken für die Obhut, die Wärme, die Geschichten. Und ihnen dann den Rücken kehren. «Wird dir die Wohnung nicht fehlen?», fragt kürzlich meine Tochter, die offensichtlich bemerkt, dass ich bereits weg bin. Ich sagte: «Nein, fehlen wird sie mir nicht, doch ich werde mich immer gerne an sie zurückerinnern. An unsere erste gemeinsame Wohnung in der Stadt. Du, deine Schwester und ich. In diesem schönen grünen Haus am Rande der Stadt.» Diese schöne Altbauwohnung war die erste Stadtwohnung meines Lebens, nach all den Miethäusern auf dem Land, in den Dörfern der Väter, in denen ich umherziehen musste mit den Kindern. Nach diesen Dörfern, in denen ich zu bleiben hatte, wegen der Nähe zu den Vätern. Immer diese Nähe, die nicht für mich gedacht war. Die mich hinderte, der Welt offen zu begegnen, mich umzusehen,  neue Wege zu wagen. Unser Neustart zu dritt also, hier in dieser Stadtwohnung, als ich den Vätern das Näheschaffen zu den Kindern endlich selber überlassen hatte, an diese Zeit werde ich mich immer gerne zurückerinnern.

Was all die vielen Umzüge im Leben von Anita gemeinsam haben, ist, dass sie nie freiwillig geschahen.

Anita Zulauf

Anita wurde 1967 als viertes Kind eines Schweizers und einer Österreicherin geboren. Als Quereinsteigerin in den Journalismus schrieb sie ab 1995 für die Berner Zeitung, das Solothurner Tagblatt, die Migrationszeitung Mix, das Magazin wir eltern, das Kulturmagazin ERNST und ist Mitglied der Edition ERNST. Obwohl ihr Themenspektrum breit ist, liegt ihr Interesse primär bei Menschen, Geschichten übers Leben und Biografien. Durch die Ausbildung zur Fotografin und die Weiterbildung zur Videoproduzentin ist sie aktuell neben dem Schreiben mit dem bewegten Bild und der Fotografie beschäftigt.