«Das liegt jetzt alles hinter mir»

Mein Bruder hatte es gut mit meiner Mutter, meine Schwester mit meinem Vater. Und ich war übrig. So zog ich aus. Ich war achtzehn Jahre alt, noch im Gymi, hatte sechstausend Franken von meiner Oma auf dem Konto und verdiente mir im Service ein Taschengeld mit dazu. Das wars. Mehr war da nicht. Und weil dieses Geld nicht reichte, bei Weitem nicht, half mir eine Stiftung für Jugendliche. Recht schnell fanden die für mich eine Wohnung. Und es war nicht irgendeine Wohnung. Es war ein Traum. Eine eigene Wohnung, in Oberi, ganz in der Nähe, wo meine Freundin wohnte. Das Blatt schien sich zu wenden. Und ich kann mich noch gut ans grosse Glück erinnern, als ich am Abend nach dem Umzug in meinem Bett unter der Dachschräge lag und die Decke anschaute. Ich dachte: Jetzt kommt alles gut, jetzt kehrt endlich Ruhe ein.

Am Anfang war dann auch alles gut. Ich fühlte mich wohl in der Wohnung, und wenn ich aus dem Fenster rauchte, sah ich meinen Nachbarn auf seinem Balkon rauchen. Anfangs nickten wir uns noch flüchtig zu, bevor wir wieder wegschauten. Mit der Zeit brauchten wir gar nicht mehr richtig hinzusehen, um zu wissen, dass der andere da war.

Ich war Teil von etwas geworden. Ich hatte ein Zuhause, war angekommen. Dann machte ich den ersten Fehler. Es war ein Fehler, den die meisten in meiner Situation gemacht hätten und der mir jetzt, wo ich zurückdenke, fast unvermeidlich erscheinen will. Ich war der einzige in der Schule mit einer eigenen Wohnung. So fanden die Klassenpartys und die Pokerabende bei mir statt. Die halbe Schule war bei mir zu Besuch. Als Tischplatte diente uns die noch im Karton eingepackte Ikea-Schranktür. Wir stellten sie auf zwei Böcke und hatten, was wir brauchten: eine Fläche, die wir vollstellten mit Getränken, Dosen und Flaschen. Die Nächte waren bunt. Und die Lärmklagen zahlreich. Am Tag nach der Party gelobte ich im Treppenhaus Besserung.

Erst besserte ich mich natürlich nicht, wieso auch. Das Leben hatte zu mir gefunden und ich hielt es mit beiden Händen fest. Dann aber, als die Jugendstiftung etwas Druck zu machen begann und ich verstand, was auf dem Spiel stand, lud ich meine Freunde und Bekannte immer öfters aus. Die letzte Party brach ich ab. Mir war das Ganze gegenüber den Nachbarn, die ich nun schon etwas besser kannte, peinlich geworden.

Am nächsten Tag machte ich mich daran, die Auflage der Jugendstiftung zu erfüllen, und suchte zwei Mitbewohner. Ich konnte selber bestimmen, wen ich haben wollte. Zum ersten Gespräch kam eine Ruderin aus Zug. Sie war depressiv, sprach nicht viel. Und ich gab ihr die Wohnung. Nicht obwohl, sondern weil sie depressiv war. Ich wollte ihr die Chance, die man mir gab, nicht verwehren. Vielleicht war das mein nächster Fehler. Es ging jedenfalls nicht gut mit mir und Debi. Und auch zwischen mir und den anderen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern hätten sich die Dinge besser entwickeln können. Es gäbe viele Geschichten darüber zu erzählen. Ich könnte erzählen, warum die Polizisten um halb eins in der Nacht an meine Zimmertür klopften oder wie das mit dem Psychiatrieaufenthalt meines Mitbewohners genau war. Auch das Hin und Her in meinen Umzugsgeschichten, das dann folgte, wäre wohl der Rede wert. Darüber, wie es in der Schweiz ist, mit Eintrag im Betreibungsregister eine Wohnung suchen zu müssen, könnte ich ebenfalls berichten. Ja, es gäbe, wie gesagt, viel zu erzählen, über mich, meine Fehler und meine Umzüge. Aber über all das muss ich jetzt nicht mehr sprechen, all das ist jetzt Vergangenheit, all das liegt jetzt hinter mir. Jetzt ists gut. Es ist gut so, wie es ist.

Wie er, Jahre nach seinem Auszug aus dem Elternhaus, den Dingen nun endlich seinen Lauf lassen kann, erzählt der 21-jährige Reto.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.