Das Lebenswerk

Mein Notenbuch mit den dreissig Goldberg-Variationen. Das ist mir vielleicht das Liebste. Es ist in etwa einen Zentimeter dick, im A4-Format, mit blauem Umschlag gedruckt, gekauft an dem einzigen Ort in der Schweiz, wo es wirklich gute Notenblätter zu kaufen gibt, im Musik Hug in Züri.

Es muss so im Jahr ‘58/‘59 gewesen sein.

Ich war, als uns Musiklehrer Pezzotti im Singunterricht von den Goldberg-Variationen erzählte, in meinem ersten oder zweiten Jahr an der PH. Dort ging ich in meinen Pausen und nach Feierabend, ich hatte keinen einzigen Freund, oft ins Musikzimmer, um Platten zu hören. Es gab einen Plattenspieler, eine ganz ansehnliche Sammlung, das Zimmer war nie abgeschlossen, war für alle frei zugänglich.

Nach Schulschluss ging ich also auch an jenem Tag – behaupten wir einfach mal, es sei im Jahr 58 gewesen – wieder einmal ins Musikzimmer und legte die Goldberg-Variationen auf, jene LP, die uns Pezzotti zuvor empfohlen hatte. Es waren die bekannten Aufnahmen des kanadischen Pianisten Glenn Gould, auf dem Cover eine junge Frau im Porträt.

Als die ersten Töne erklangen, legte ich mich auf den Boden – und schloss die Augen.

Dann dieser Moment.

Ein Moment, den ich nie vergessen werde, nie, nie, ein Erweckungsmoment, ein kathartischer Moment, unfassbar aufwühlend, zutiefst erschütternd, das a-b-s-o-l-u-t-e  Glück.

Als ich da – mitten im Musikzimmer – auf dem Boden lag und zum allerersten Mal den Goldberg-Variationen lauschte, kam ich in einen Glücksrauschzustand, wie ich ihn danach, mein ganzes Leben lang, nie mehr erlebt habe.

Am allerbesten gefiel mir wohl damals schon die dreiundzwanzigste, die Variation mit ihren schnellen Figuren und sprunghaften Intervallen, die Pralltriller-Ansammlungen, die raschen Wechsel zwischen dem Hauptton und der unteren Nebennote. Sie gehen, blamblam, über die ganze Klaviatur hinweg, blamblam.

Ein epochales Meisterwerk.

Die Töne schlugen Saltos, jeder einzelne Ton war wie ein kontrollierter Sprung eines Zirkusakrobaten – riskant, vor voller Manege – aber in Perfektion ausgeführt.

Nachdem ich mir eben dann, wohl bald paar Tage danach schon, die Noten im Musik Hug besorgt hatte, begann ich mit dem Üben – in ultralangsamem Zeitlupentempo natürlich, ich hatte damals ja erst ein, zwei Jahre Unterricht, spielte noch nicht so gut Klavier.

Ich begann mit der dreiundzwanzigsten.

Es war schwierig.

Ich blieb dran.

Und blieb dran.

Und blieb hartnäckig.

Ich wollte, und sei es auch das Allerletzte auf der Welt, das ich mache sollte, die dreiundzwanzigste einmal in Perfektion beherrschen. Und als ich sie schliesslich schon recht gut spielen konnte, begann ich die nächste einzustudieren und dann die nächste, die nächste, die nächste.

In Etappen lernte ich von da an – bis zu meinem sechzigsten Lebensjahr – alle dreissig Goldberg-Variationen auf dem Klavier, ich lernte sie alle – über diese vielen Jahrzehnte und Jahre hinweg – auswendig. Heute, etwa sechzig Jahre nach diesem einen Moment im Musikzimmer, brauche ich nur die Hände auf die Tasten zu legen, und sie finden ihren Weg. Jede einzelne Goldberg-Variation ist in meinem Körper, in meinen Händen abgespeichert.

Nach der PH studierte ich Musik.

Lange arbeitete ich danach aber noch als Primar- und Realschullehrer, ehe ich irgendwann, viel zu spät, Anfang meiner Fünfziger, endlich Musiklehrer wurde.

Und noch heute vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eines dieser Stücke in mir erklingt. Sie tönen in mir drin, diese Werke von Bach, und ich höre einfach zu, und bin nach all den vielen Jahren noch immer ergriffen, noch immer wühlt mich diese Musik auf.

Für mich klingt alles andere hohl, schmeckt blass, abgestanden. Und obwohl ich die dreissig Variationen noch immer auswendig auf dem Klavier spielen kann, das Notenbuch eigentlich längst nicht mehr bräuchte, liegt dieses dünne, blaue Buch in meinem einzigen Schrank noch immer ganz, ganz oben auf dem Stapel.

Wie der 84-jähirge Werner mit Bach ein Lebenswerk teilt.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.