Das Buch der Tiere

Und selbst? Ein Lieblingsding? Hat Winterthur eines, als Stadt, knapp 120.000 Einwohner, gut 68 Quadratkilometer Fläche, urkundlich erstmals 1180 nach Christus erwähnt, hat dieses Winterthur ein Lieblingsding? Man kann sich ja mal umhören, man kann ja mal fragen …

„14 Uhr, passt das?“, sagt Andres Betschart hinter seinem Schreibtisch und nickt. Er werde etwas vorbereiten. Es werde ein Buch sein, ein besonderes Buch, sein persönliches Lieblingsstück, das könne er schon mal verraten, der Historiker, der die Sammlungen der Winterthurer Bibliotheken leitet.

14 Uhr also, der Mann hat Schwung, wie er aufspringt, mittels der Maus noch schnell die Seite auf seinem Bildschirm schließt, schon führt er nach unten zu einem großen, langen Tisch: auf zwei schwarzen Schaumstoffkeilen liegt ein Buch bereit, noch ist es zugeschlagen, es ist sehr dick, ein sehr altes Buch, und er legt seine linke Hand auf den Einband, als würde er auf etwas schwören, was von nun an für immer gilt.
„Es ist ein sehr hässliches Buch“, sagt er. „Und wenn man es öffnet, sieht es auch nicht besser aus.“ Er schlägt es auf, blättert.
Es ist auf den Seiten viel geklebt, es ist viel geflickt. Manchmal ist das Papier leicht abgeschabt, einmal ist eine halbe Seite wie abgerissen.
„Das Buch ist sehr häufig von Leuten angeschaut worden, die nicht sorgfältig damit umgegangen sind; da müssen Tausende von leicht schmutzigen Fingern rumgeblättert haben, und das zeigt: Es ist ein Buch, das ungemein beliebt gewesen sein muss.“

„Normalerweise hat man ja bei historischen Büchern weisse Handschuhe an, oder?“, frage ich.
„Eigentlich schon, aber früher nicht.“

So folgt nun die Auflösung, was das für ein Buch ist, ein Buch über Tiere nämlich, aber ein sehr besonderes: „Es stammt von Conrad Gessner, und das war ein Renaissance-Gelehrter aus Zürich; man kann ein bisschen reisserisch sagen: ‚Er war der Leonardo da Vinci der Schweiz‘, ein unheimlich vielseitiger Mensch. 2016 hat man seinen 500sten Geburtstag gefeiert; er selbst aber ist keine 50 Jahre alt geworden, was damit zusammenhängt, dass er auch Stadtarzt in Zürich war und versucht hat, Pestkranke zu heilen. Und dann ist er selbst an der Pest gestorben.“
Ein Übersetzer antiker Schriften auch, ein Autor theologischer, philologischer sowie medizinischer Bücher; ein Sammler von vielem, einer, dem etwa im Alter von 25 Jahren einfällt, ein Verzeichnis aller damals bekannten Bücher aufzuschreiben, Tausende von Büchern, jedes einzelne kurz zusammengefasst.         
Und vor uns liegt nun sein bekanntestes Buch: sein Buch über die Tiere, über alle Tiere, die damals bekannt waren, alle Tiere auf der Welt.

„Gessner hatte ein großes Netzwerk zu Kollegen überall in Europa, er hat sie aktiv gefragt, nach den Tieren, und sie haben ihm geschrieben: Da gäbe es noch dieses Tier, das sähe so und so aus, er hat das durchaus kritisch angeschaut, aber wenn er mehrere Hinweise bekommen hat, dann musste er wohl annehmen, dass dem so ist“, erzählt Andres Betschart.

Drei Bände werden es, umfangreiche Bände, auf Latein.
Und nun kommt ein nächster Mann ins Spiel, ein Mann aus Winterthur, ein Pfarrer, ebenfalls Conrad mit Vornamen, aber ‚Forrer‘ mit Nachnamen: Konrad Forrer überarbeitet 1563 die drei lateinischen Tierbücher des Konrad Gessner und dampft sie zu einem deutschsprachigen Band ein. Die Abbildungen nach Vorlagen von Gessner von nicht mehr bekannten Holzschneidern gefertigt.

Es gibt den Löwen, der beschrieben wird. Es gibt die wilden Katzen. Es gibt den Forstteufel, es gibt das Meerkalb und es gibt das Einhorn. Es gibt – und hier wird es besonders spannend – eine deutlich abgegriffene Doppelseite, die zwei Giraffen zeigt: eine plumpe Art, gedrungen und klein, irgendwie wollen die Proportionen nicht zusammenpassen, eine Mischung aus Kamel und Leopard, das Kamelpard; und es gibt eine Abbildung einer Art mit langem Hals, schmal, fast zierlich, mit den beiden, kleinen Höckern auf dem Kopf: „Und hier muss wirklich jemand eine Giraffe gesehen und darüber berichtet haben“, sagt er. Der kurz den Hintergrund zu den beiden so unterschiedlichen Abbildungen skizziert: „Im Mittelalter hat ein Tier vor allem eine symbolische Bedeutung und diese ist weit wichtiger, als wie es wirklich aussieht, aber in der Neuzeit wird genau letzteres entscheidend – und Gessner war zwischen diesen beiden Zeiten unterwegs.“

Geordnet ist die Tierwelt: Erst kommen die Lebendgebärenden, also die Säugetiere, dann die Reptilien; es folgen die Vögel und zum Schluss kommen die Fische: „Conrad Gessner war schon auch am Meer, aber er war vor allem in Zürich, war aber eben auch, was die Fische angeht, auf seine Kontakte angewiesen.“ Und was sie ihm über sagenhafte Meerestiere schriftlich zu berichten wussten.

Besonders zu den mysteriösen Walfischen, zu denen auch der Meerbischof und der Meermönch gehörten, zwei schuppige Gestalten mit kurzen Flossen und überraschend menschlichen Köpfen, auch Gesichtern, und er beginnt vorzulesen: „Diser Meermünch sol sich an dreyen Orten erzeiget/ an dreyen Orten gefangen seyn worden. Erstlich in Norwegia/ bey Diez … /Demnach sol er auch in dem Balthischen Meer gefangen seyn worden.“ „Sie merken“, unterbricht er kurz: „Gessner schreibt nicht ‚er ist‘, er schreibt ‚er soll‘.“ Und er liest weiter vor: „Es sol die ganze lenge des fisches 4. Ellenbogen/ sol de Künig zugeschickt gedert – gedörrt – von zu einem wunder behalten seyn worden. Sol von den fischern im garn mit den Häringen gefangen sein worden; dergleyche sol auch einer bey Burtegal – also Portugal – in dem Gallischen Meer gefangen seyn worden‘ – man hört, er schreibt das mit Distanz, aber er hat so viele Hinweise bekommen, dass es dieses Tier gegeben hat, dass er annehmen musste: Es war halt so.“
Und warum sollte es den Meermönch nicht geben, wenn es den Tintenfisch gibt, ein Ding mit acht Armen?

So ein Buch also ist das, bewahrt, behütet in der Sammlung Winterthur, gleich links neben der Stadtbibliothek am Kirchplatz: „Das Haus war immer eine Bürgerbibliothek, keine Klosterbibliothek, also eine Bibliothek der Bürgerschaft, eine der Stadt“, erzählt Andres Betschart noch: „1660 gegründet, für die männlichen Bürger zunächst, für die weiblichen erst später. Dann für alle Stadtbewohner, wobei: Man musste lesen können, dann kam man, nahm das Buch, um etwas nachzuschauen, und auch zur Unterhaltung wird man es angeschaut haben, da bin ich mir ganz sicher.“
Und er klappt das Buch wieder zu, wird es gleich an seinen Platz bringen: „Es muss spannend für die Menschen gewesen sein, dieses Buch anzuschauen, es gab ja lange keine Fotos, keine Filme, kein Fernsehen, und deshalb ist es mein Lieblingsbuch, meine Lieblingsgeschichte.“
Und selbstverständlich kann man es bis heute anschauen, gleich morgen, wenn man mag; zu den Öffnungszeiten kann man vorbei kommen, einen Bibliotheksausweis sollte man haben, aber das lässt sich ja machen, und dann kann man sich das Buch des Konrad Gessnerszeigen lassen und selber schauen – weisse Handschuhe allerdings sollte man unbedingt anziehen, die werden einem zur Verfügung gestellt.

Sammlung Winterthur, Obere Kirchgasse 8

Öffnungszeiten: Mo-Fr 10-17 Uhr, Sa 10-13 Uhr

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Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.