Briefe an der Zimmertür

Am Anfang hat alles noch so «semi» funktioniert. Auch wenn wir sehr unterschiedlich waren. Er war Ingenieur und sehr spirituell. Ich war noch in der Schule, holte als Erwachsener das Gymnasium nach, das ich brauchte, um weiterzukommen. Er stand morgens um vier Uhr auf, um Yoga zu machen. Ich schlief, wenn ich konnte, lange. Am Wochenende rollten seine Freunde und er ihre nackten, dick mit Farbe beschmierten Körper im Keller über Leinwände. Das störte mich nicht.

Während unserer seltenen Abendessen ereiferte er sich – ich sehe seine harten Gesichtszüge noch genau vor mir – über Kreditkarten und Banken, über den Bundesrat und das Parlament, die beschlossenen Corona-Massnahmen und Masken. Auch das störte mich nicht. Manchmal, wenn ich ein bisschen Platz zwischen zwei seiner Argumente fand, stimmte ich ihm schwach zu. Ich wollte keine Grundsatzdiskussionen in unserer WG. Und auch beim Putzen, ich schwör’s, gab ich mir Mühe. Ich kaufte, obwohl ich immer zu wenig Geld hatte, die Ökowaschmittel, die er wollte. Ich weiss noch, wie ich dachte: «Voll cool, bei dem kann ich was lernen.» Sogar auf seinen Vorschlag, «Flatastic» runterzuladen, um Ausgaben und Hausarbeiten zu erfassen, bin ich noch, wenn auch schon etwas widerwillig, eingegangen. Doch spätestens als er von mir verlangte, das ganze Bad zweimal wöchentlich zu putzen, hielt ich dagegen.

Bevor wir ganz still wurden, wurden wir laut und immer lauter, immer heftiger gerieten wir wegen Haushaltsdingen aneinander. Erst habe ich «Arschloch» nur gedacht, dann habe ich es, es war an einem Mittwochnachmittag, einmal zum ihm gesagt. Das Wort, das ich mitten in der Stube fallen liess, machte den Graben, den es zwischen uns schon lange gab, sichtbar, scheuchte den  Elefanten in der Zimmerecke auf. Nachher wurde es, wie gesagt, sehr still in der Wohnung. Wir sprachen gar nichts mehr. Wir kommunizierten nur noch via Briefe, die wir uns an die Zimmertüren klebten. Ich war es dann, der auszog.

Wie das alles war damals mit seinem neuen Mitbewohner und ihm, erzählt uns der 21-jährige Reto in der Beiz.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.