Amerigo

In Zürich konnten wir gar nicht richtig rausgehen. Wir waren zu klein, Zürich war zu gross. Es war zu laut und unübersichtlich, es war zu gefährlich.

Dann zogen wir nach Winterthur. Dort haben wir uns den Aussenraum langsam erkämpft. Wir waren erst sehr verängstigt. Ich bin sowieso eher schüchtern, vorsichtig. Sylvester war mutiger. Ich bin zwar nach Marco Polo benannt, doch von uns beiden war Sylvester der Draufgänger, der Abenteurer, der Entdecker. So kam es auch, dass er eines Tages nicht mehr wiederkam.

Ich blieb ohne ihn zurück am neuen Ort. Und jetzt war ich noch verschüchterter, wollte noch weniger raus, irgendwohin in die Welt. Obwohl wir ja extra das Türli und die Leiter bekommen hatten, was eigentlich gar nicht erlaubt war.

Manchmal hoffe ich, dass Sylvester irgendwo in der Ferne einen wunderbaren, unbekannten Kontinent entdeckt hat, wo Kratzbäume wachsen und unter ihnen fette Mäuse herumfläzen. Ich hoffe, der Neue, der nach Sylvester zu uns kam, wird mich bald auch dorthin bringen. Ich hoffe, er heisst nicht umsonst: A-m-e-r-i-g-o.

Wovon Katzen träumen.

Alexander Estis

Alexander ist Schriftsteller. Geboren 1986 in Moskau in einer jüdischen Künstlerfamilie, kam er 1996 nach Deutschland. Nach dem Studium lehrte er deutsche Sprache und Literatur an mehreren Universitäten. Seit 2016 lebt er in der Schweiz. Insgesamt hat Alexander Estis bislang sieben Bücher veröffentlicht, zuletzt den Prosaband »Fluchten« bei der edition mosaik. Für FAZ, NZZ, SZ, DIE ZEIT und andere Zeitungen schreibt Alexander Estis Kolumnen, Essays und Kommentare; seine Radiobeiträge sind regelmässig im Deutschlandfunk zu hören. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet; derzeit residiert er als Stadtschreiber in Dortmund.