Am Berg

Ich kletterte einfach drauflos.

Ich traute mich.

Ich hakte das Seil ein.

Ich ging voran.

Manchmal musste ich zwanzig Meter frei zwischen zwei Sicherungshaken klettern. An Absturz zu denken, verbot ich mir an jenem Morgen aber.

Die Fixseile, dicke Hanfseile, die jemand als Kletterhilfe am Berg angebracht hatte, waren jeweils nur mit dünnen Rebschnüren an einem alten Haken verzurrt.

23, 24 Jahre alt war ich damals, an jenem Morgen eben, als ich mit einem Freund um drei Uhr in der Früh, mit der Stirnlampe am Kopf, vom Rifugio Carrel auf der italienischen Seite des Matterhorns loszog. Kurz nach der Hütte kam schon der erste Schlüsselmoment.

Vor der fast überhängenden Stelle warteten an jenem Morgen schon zwei, drei Seilschaften.

Niemand traute sich hoch.

Auch ich stockte.

Daniel ist, das will ich Ihnen an dieser Stelle erzählen, in Liebefeld aufgewachsen, in einem Dreifamilienhaus. Lassen wir Daniel also noch kurz warten, vor diesem Felsen, an jenem Morgen. Und sprechen wir kurz von Daniels Schulzeit.

Denn: Schule, na ja.

Der Math-Lehrer schmetterte Daniel und seinen Klassengpändli immer Rechenaufgaben und Zahlenreihen an den Kopf. Die ganze Klasse musste dabei stehen. Nur, wer die Rechenaufgabe im Kopf gelöst hatte, durfte wieder absitzen.

Einer nach dem andern durfte sitzen. Daniel aber, Sie ahnen es, blieb bis zum Schluss stehen. Sein Kopf wurde immer röter und röter.

Ohne viel Selbstvertrauen verliess er die Schule und machte eine Lehre als Feinmechaniker bei der Hasler AG. Später wurde er Journalist. Jahrelang produzierte er dabei, wie er heute sagt, viel heisse Luft.

Seit sieben Jahren ist er pensioniert, er ist froh darüber. Jetzt ist ihm, das hat er mir gesagt an einem Tisch in diesem Café, seine Partnerin wichtig, seine Tochter. Und seine drei Enkel.

Und ja, das Klettern, das war schön.

Es gab ihm Selbstvertrauen.

Engelhörner, Zinalrothorn, Nordwände – beim Klettern hatte er seine glanzvollsten Momente. Also: Lassen wir ihn nun nicht länger warten, dort am Felsen. Er erinnert sich, wie gesagt, noch gut, an jenen Morgen, wie sie da um drei Uhr in der Früh, mir wäre das ja viel zu früh, am Berg standen.

Alle drucksten sie rum. Sein Freund. Aber auch die anderen Kletterer, die da so rumstanden, vor jener Schlüsselstelle, jenem schwierigen Aufstieg.

Ich merkte, dass niemand voran gehen wollte.

Die Kletterer klopften Sprüche oder wurden still, niemand von ihnen machte Anstalten zu gehen

Auch ich schaute den Berg hoch.

Auch ich stockte.

Auch ich hatte Respekt vor dem bevorstehenden Aufstieg.

Doch schliesslich gab ich mir einen Ruck.

Und kletterte einfach drauf los.

Und ging voran.

Ich hakte das Seil ein.

Und kletterte weiter.

Und hakte das Seil ein.

Und kletterte weiter.

Und hakte das Seil ein.

Und kletterte immer weiter.

Und immer weiter.

Und immer weiter.

Und ich genoss den Aufstieg, war ganz konzentriert, suchte meinen Weg an Felswand.

Auf dem Gipfel angekommen, umarmten wir uns.

Wir genossen die Aussicht, das Glück, es geschafft zu haben – und nahmen, nach einer kurzen Pause, den Abstieg wieder in Angriff.

Daniel, 72

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.