«Aber sonst ist es ein schöner Beruf»

Abends gehen wir zufällig vorbei. Sind auf der Suche nach einem kleinen Restaurant, das uns zusagt und gefällt. Uns ist nach Ruhe und In-Ruhe-Reden, wenn möglich draussen, so angenehm warm, wie es noch ist. Wir gehen vom Stadtgarten aus die Stadthausstrasse entlang, queren sie, biegen ein in den Rathausdurchgang Richtung Marktgasse. Das Geschäft an der Ecke mit seinen hohen Fenstern ist geschlossen. Es ist ja schon 18.30 Uhr durch. Aber da sitzt er noch; bei schmalem Licht an seinem Platz hockt er, etwas tiefer hinter dem breiten Schreibtisch, links und rechts stapeln sich die Bücher, und er liest, was sonst.

«Ach ja», sagt man in der Stadt, wenn man den Namen des Geschäfts nennt, wenn man beschreibt, wo genau es liegt, zentral eigentlich. Sagt entschuldigend, dass man es natürlich kenne, aber noch nicht drin gewesen sei, bisher nicht, man habe ja selbst zu Hause noch Bücher herumstehen, neulich geschenkt bekommen oder selbst gekauft, aber leider noch keine Zeit gefunden oder keine Gelegenheit gehabt, sie in die Hand zunehmen. Oder man sagt: «Das gibt es noch …» – und versucht das Fragezeichen nicht mitzusprechen. Denn wenn es in einer Stadt, in einer Stadt wie Winterthur kein Antiquariat mehr gibt, dann gute Nacht, Marie.

«Sie sind Buchhändler?», frage ich Ulrich Harsch am Nachmittag.
Er schüttelt den Kopf.
«Sondern?»
«Wildwuchs …»
«Das heisst?»
«Ich bin zu diesem Antiquariat gekommen wie die Jungfrau zum Kinde …»
Wie lange habe ich das nicht mehr gehört, das mit der Jungfrau und dem Kinde. Es gefällt mir. Es ist so alt. Es ist so haltbar. Ich setze meinen Rucksack ab, ich stelle mich bequem hin und frage weiter.

Die höhere Handelsschule hat er besucht, beginnt er zu erzählen, nachdem er das Buch ohne Eile zugeschlagen hat, in das er eben noch vertieft war. Dass er nach dem Abschluss keine Ahnung hatte, was mit ihm werden soll; dafür wusste er etwas anderes um so genauer: dass er den erlernten Beruf keinesfalls ausüben will: «So landete ich bei meinem Vorgänger.»

«Und der war ein alter Spanienkämpfer», sagt er. «Er kam mit einer TB aus dem Bürgerkrieg zurück, hatte ein Lungenemphysem, deshalb hat er immer Hilfe gebraucht, konnte aber nicht viel bezahlen. Also war immer unter uns jüngeren Linken die Frage, wer kann helfen und einspringen. So kam ich dahin», erzählt er.
«Hat mir gefallen», sagt er. Und er setzt eine schöne, kleine Pause. Schaut mich an, spricht zu sich und zu mir und spricht in den hohen Raum hinein mit all den Regalen, turmhoch, mit all den Büchern, wie sie sich in den Regalfächern drängen, wie sie sich gegenseitig stützen, wie sie um Platz kämpfen, nach vorne drängen, in der zweiten Reihe verschwinden. Wie sie sich auf dem Boden stapeln, in den Ecken, neben dem Aufgang zur Wendeltreppe nach oben, auf den Fensterbänken, auch in den Holzkisten vor der Tür, der Antiquar ist hier vor Ort und er geht zurück in die Zeit, die damals war: «Waren gute Arbeitsbedingungen: morgens um neun musste ich den Laden öffnen, und ich konnte lesen, was immer ich lesen wollte. Ich musste nur freundlich zu den Leuten sein. Und am frühen Nachmittag kam er dann, mein Vorgänger, nach etwa einem Jahr ist er mir gewissermassen unter den Händen weggestorben. Dann läuft man nicht auch noch davon.»

Und Ulrich Harsch bleibt, und er fuchst sich ein, lernt, was zu lernen ist, zusammen mit einer Kollegin verantwortet er nun das Antiquariat in der Stadthausstrasse mit der Hausnummer 57, das wie alle Antiquariate von einer Idee getragen wird: Es kauft Bücher auf, gesuchte und ihm vorgeschlagene, um diese wieder zu verkaufen, und bis es so weit ist, was manchmal Jahre dauern kann, brauchen all diese Bücher ihren Platz und einen Ort. Einen Ort, der sie schützt; einen Ort, in dem sie in Sicherheit sind und an dem sie alle Zeit der Welt haben, um zu warten, bis es so weit ist.

«Klassischerweise kaufe ich vollständige Bibliotheken. Aber mittlerweile kommen die Leute mit Autos voller Bücher vorgefahren, das ist dann weniger schön», erzählt er. Überhaupt habe sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren das Leseverhalten sehr geändert, das Interesse rückwärts an Literatur etwa nehme stetig ab: «War Thomas Mann mit seinem ‹Zauberberg› mal ein sicherer Tipp, wird der heute noch zweimal im Jahr nachgefragt, wenn überhaupt.» Erstausgaben werden noch verlangt, aber es werden immer weniger. Er sagt: «Ich hatte schon junge Leute im Laden, die hatten noch nie ein gebundenes Buch gesehen.»
Und die Sammler sterben langsam aus. Auch die Buchbinder werden immer älter und immer weniger; und es wird schwierig, wenn mal ein älteres, wertvolles Buch zu reparieren ist. Er sagt: «Aber sonst ist es ein schöner Beruf.»
Und ja, die vollen Regale, überall die Bücherhaufen, also vornehmlich die älteren Herrschaften, die fänden die Stapel toll. Und die würden auch fündig. «Es gibt auch Frauen, die an der grossen Auswahl Freude haben, aber es sind eher die Männer», sagt er. «Im Sommer kommen recht viele Deutsche! Ihre Ehefrauen gehen ins Café, und ihre Männer werden von ihnen nach einer Stunde hier dann wieder rausgeschüttelt.»

Sein Mitarbeiter kommt, möchte etwas zeigen. Er hat bisher im Hintergrund still geräumt und sortiert, unauffällig und fleissig; hat jede an ihn gerichtete Frage zu den jungen Leuten etwa und den Büchern oder ob man Bücher einfach so wegwerfen dürfe, nur weil sie grad niemand kaufen will – ‹outsourcen›, sagt dem der Antiquar mit gespitzten Lippen – freundlich und wortlos ignoriert. Er hat ja zu tun. Er ist beschäftigt. Denn da ist der nächste Stapel, der in einem anderen Stapel oder Fach unterkommen oder vielleicht auch hier zugeordnet werden will.
Nun aber hält er ein einzelnes Buch in der Hand, etwas unhandlich schaut es aus, schwer. Er braucht beide Hände, um es in der Mitte aufgeschlagen zu halten. Schwarzer Einband. Es schaut aus wie ein Kontorbuch, mit exakten Linien, waagerecht und senkrecht, also Spalten, in denen mit feiner, dünner Federschrift in jeder Zeile etwas eingetragen ist, Worte und noch mehr Zahlen.
Die beiden tauchen ab in ein schnelles Schwyzerdütsch und lassen mich raten, um was es gehen könnte.
Ich verstehe: «ein grosses Schnitzel». Und: «Kroketten». Ich verstehe: «Löffelbiskuit». «Marktgasse 78», höre ich heraus; dann: «Bahnhofsplatz» und «um 1900». Und dass ein Hunderter dafür in Ordnung wäre.
Und mit einem kurzen Nicken schlägt sein Mitarbeiter das Buch zu, klemmt es sich unter den Arm und ist schon auf dem Weg. Nach draussen, biegt um die Ecke, ist verschwunden, wieder wortlos.

«An die Confiserie Lutz kann ich mich noch erinnern», sagt Ulrich Harsch. «Der letzte Confiseur, der dort war, war auch noch Jazzfanatiker. Hat noch ab und zu Konzerte veranstaltet, recht hochkarätige; und ich und mein Schulfreund, wir waren da öfter; wir waren die einzigen jungen Leute dort unter all den Grauköpfen, das hat ihm gefallen, dass wir dabei waren.» Und er lacht; kurz, leise und weise.
Jedenfalls: Er fand keinen Nachfolger, der Confiseur. Kam eines Tages vorbei mit einem Schwung Bücher. Der wanderte in einen Stapel, auf den wieder etwas gestapelt wurde und wohl wieder etwas, was man dann zur Seite schob – und nun wird in dieser Ecke gerade aufgeräumt, und dieses Buch eben war ein durchaus lohnender Fund. Denn es gibt in der Stadtbibliothek gleich um die Ecke eine recht passable Sammlung von Alltagszeugnissen, um das Winterthurer Alltagsleben quer durch die Jahrhunderte zu dokumentieren, es gehe um 1600-irgendetwas los, und da würden sie der Leiterin der Stadtbibliothek immer mal wieder etwas anbieten, und meist würde sie gerne zuschlagen.
«Das sind Kuriosa, die eigentlich keinen Handelswert haben», erzählt er. Sagt: «Es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich das Buch vergessen habe, aber hier kommt ja nichts weg.» Hier, an diesem Ort, in dem er sitzt, ein lesender König ohne Krone vielleicht, der sich in einem sicher ist: «Was immer hier irgendwo ist, eines Tages kommt es wieder zum Vorschein.»

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.