Etwas kommt da auf uns zu

Ich weiss eben noch nichts Genaueres. Das ist es ja. Offiziell weiss ich noch von gar nichts. Die Hausbesitzerin war mit dem Fotoapparat da. Das wissen wir. Eine Nachbarin hats gesehen.

Auf beiden Seiten des Hauses hat es Föhren, es hat Blautannen und Rottannen. Im Schatten der Bäume gibt es weiches Moos. Ich liebe es, barfuss darauf zu gehen.

Seit acht Jahren wohne ich da, in dieser schönen Hochparterre-Wohnung. Ich sitze so gerne mit einem Cappuccino vor dem Wohnzimmerfenster, im Korbstuhl, in dem schon mein Grossätti gesessen ist. Ich löse Kreuzworträtsel und schaue den Kohl- und Blaumeisen zu. Unterm Dach nisten die Hausrotschwänze. Sogar Zaunkönige gibt es.

Ich weiss, ich sollte sie im Sommer eigentlich nicht füttern. Trotzdem gehe ich in den Coop oder in die Migros und kaufe Walnüsse und Sonnenblumenkerne, die ich dann mit dem Mörser für sie zerstampfe.

Und dann sind da im Sommer noch die Mauer- und Alpensegler. Dieses Jahr waren sie besonders lange da. Aber ja: Jetzt müssen wir erst mal abwarten. Wir wissen nicht, was sie vorhat. Etwas kommt da auf uns zu. Das ist klar.

Ich bin froh, dass ich den Garten überhaupt machen darf. Als ich eingezogen bin, hiess es, man dürfe nichts verändern. Die Besitzerin, das wusste ich, war vorher selbst im Haus und wollte nicht, dass jemand ihren Garten kaputtmacht.

Irgendwann habe ich bei der Verwaltung, obwohl sie sie eigentlich hätten geheim halten müssen, die Adresse der Hausbesitzerin rausgekriegt. Ich habe ihr einen Brief geschrieben und Fotos von meinem alten Garten beigelegt, um ihr zu zeigen, dass ich das kann, dass ich Sorge zu ihrem Garten tragen würde.

Sie hat mir dann prompt zurückgeschrieben und mir die Bewirtschaftung ihres Gartens erlaubt. Seither pflege ich ihn. Jetzt gibt es im üppigen Garten Flammenblumen mit reich verzweigten, rosaroten Blümchen. Es gibt einen Pfingstrosenbaum, den ich im Herbst zurückschneide. Sogar eine Hanfpflanze gabs, so dick, dass sie einen richtigen Stamm hatte. An einem Abend hat jemand die Pflanze abgeschnitten und mitgenommen.

Sonnenblumen gibt es natürlich auch im Garten und im Frühling blüht der Klatschmohn. Die Kronblätter leuchten dann purpurrot und sind so wunderschön zusammengeknautscht. 

Manchmal pflücke ich ein paar und stelle sie in einer Vase auf den Küchentisch. Wenn man die Stiele der frisch geschnittenen Blumen kurz unter heisses Wasser hält oder sie mit dem Feuerzeug anbrennt, halten sie länger. Ich hatte ganz vergessen, dass es nicht mein Garten ist. Aber jetzt müssen wir erst mal abwarten. Wir wissen nicht, was sie mit dem Haus und dem Garten vorhat; wir wissen, wie gesagt, noch gar nichts. Wir wissen nur, dass sie da war. Sie war da mit dem Fotoapparat.

Ob sie demnächst umziehen muss, fragt sich die 77-jährige Eva ab und an, wenn sie auf ihrem Korbstuhl sitzt und den wunderschönen Garten betrachtet, der eben nicht ihr Garten ist.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.