Heute sagt man ‚cozy‘ oder ‚hygge‘

Das leise Klirren, wenn eine Stecknadel herunterfällt. Wir Kinder, wie wir auf dem Küchenboden herumkrabbeln, dass wir die Nadel finden, dass wir uns nicht später verletzten, wie wir barfuss oder in Strümpfen durch die Küche gehen, Teller und Besteck holen, auch Gläser, die mit den bunten Ringen, um nebenan in der Essecke aufzudecken.
Die Nähmaschine, schwer und weiss, die auf dem Küchentisch thronte, unter dem Fenster, unter der Lampe. Ein Kabel, das zur Steckdose führte, Stoffreste und Fäden und ein wenig Staub von der Zeichenkreide, verteilt auf dem Boden, das an diesem Nachmittag Genähte vorsichtig zusammengelegt, noch ist es nicht fertig, man kann es noch nicht anziehen, es muss weitergenäht werden, eine Hose, eine Jacke, ein schwerer Mantel mit glattem, glänzendem Innenfutter und auch mit Innentasche, wenn schon, denn schon. Aber nicht mehr heute, jetzt ist Abendbrotzeit, alle sind hungrig oder wollen es sein, vielleicht kommt nachher eine Fernsehshow und wir Kinder dürfen mitgucken, morgen ist keine Schule, da darf das sein.
Und unsere Mutter: schon müde ist sie, ein wenig auch enttäuscht und unzufrieden. Wieder hat sie an diesem Nachmittag nicht das geschafft, was sie schaffen wollte; nicht das genäht, was sie nähen wollte. Und muss nun wegräumen, muss Platz machen.

Yvonne, sie trägt eine weite, kraftvoll bunte, schöne Bluse, nicht aus der Boutique, nicht aus dem Kaufhaus, schon gar nicht von der Stange, noch weniger vom Stapel, Yvonne weiß sofort Bescheid: eine Nähmaschine. Was für ein schönes Ding, na klar. Ein Werkzeug, eine Welt. Und dann das Nähen, das Schneidern, um sich die Welt anzueignen, um sie zu gestalten.

Sie hat sich ihre neue Maschine noch vor der Pensionierung gekauft. Die ihren festen Platz hat, weil schwer ist sie, hat Gewicht, daneben steht eine zweite mit Overlock-Funktion; mit einem Oberstofftransportfuss, nicht ganz billig, dass man T-Shirts nähen kann, ohne dass sich etwas verzieht, und die Nähte und die Säume liegen von nun an schön glatt. Und sie näht und näht und näht, aus purer Freude.

Sie kann eine Geschichte erzählen, die es in sich hat – also: Sie ist 16, und sie näht sich ein Kleid, schlicht todschick: der Stoff dunkelrosa, das Muster übersät von Rosenknospen; ein Rock, ein Oberteil, eine Jacke. Nach einem Burda-Schnitt! Nur kommen am nächsten Nachmittag Verwandte vorbei, darunter ihre – bitte festhalten! – Hasstante.
Es kommt die Tante, die sie am wenigsten mag. Am allerwenigsten.
Und die beeindruckt ist von Yvonnes Kleid, sie schwärmt und lobt das neue Kleid, das Frischgenähte, das am zweiten Tag Getragene.
Und die Tante – „Ich konnte sie nicht ausstehen“, sagt Yvonne, und man glaubt es ihr sofort – die Tante wird am nächsten Tag zu ihrer Schneiderin gehen und sich ein Kleid nähen lassen: aus demselben Stoff und nach demselben Schnitt.
„Das macht man doch nicht!“, sagen wir beide wie aus einem Mund. Das gehört sich einfach nicht.
Und Yvonne seufzt und sagt: „Ich habe das Kleid nie wieder getragen.“

Und es ist auch nicht irgendeine Schneiderin, zu der die Tante geht, es ist die Patentante von Yvonnes jüngerer Schwester, zwei Häuser weiter wohnt sie und hat dort ihre Schneiderei und sie hat wiederum einen Sohn, den Peter, wiederum ein Jahr älter als Yvonne, die beiden Kinder sind befreundet, schon in ganz jungen Jahren, Yvonne und Peter.
„Wir waren oft bei ihr im Nähzimmer, sind um sie herumgesessen oder saßen im Schneidersitz auf dem Nähtisch, und sie hat uns Märchen erzählt, hat dabei geschneidert – es war gemütlich, es war ganz nah, heute sagt man ‚cozy‘ dazu oder ‚hygge‘“, sagt Yvonne.

Ihre eigene Patentante macht den nächsten Schritt, sie wird sie ans Nähen heranführen, ans Selbernähen, mit 13,14 geht es los: „Das erste Stück, das ich nähen wollte, war ein Wintermantel, mit Kapuze, und sie hat mir mit dem Zuschneiden geholfen, sie hat die schwierigen Partien genäht, hat mich den Rest machen lassen, und ich hatte mit 14 meinen ersten eigenen Wintermantel, einen in Dunkelbraun.“

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.