Ihr Stift

Ist das mein Stift?, fragt sie. Nicht, dass du meinen Stift verkramst. Ich kann ihn ruhig nehmen, den Stift, der auf dem Esstisch liegt, auf ihrer Seite, mir gegenüber. Aber zurücklegen! Bitte. Ein Kugelschreiber, aber keiner mit Werbeaufdruck, irgendwo mitgenommen, bei einem Strassenfest, bei einer langweiligen Tagung, bei einem Wahlkampfstand, auch wenn man die Kugelschreiberverschenkpartei nicht schätzt, sie niemals wählen würde, Stand von heute. Sondern ein gekaufter Stift, etwas teurer. Es lohnt, die Mine zu wechseln.
Es ist ihr Stift, er sei besonders, liege gut in der Hand, sagt sie, einfach ein Stift, blau, weil die Tinte blau ist und nicht schwarz, sie schreibt damit die tägliche To-do-Liste, notiert, was ihr plötzlich einfällt, bestückt die Kästchen im Kreuzworträtsel, morgens in der Tageszeitung: Nebenfluss des Rheins, persönliches Fürwort, deutscher Philosoph, erster Buchstabe ein K, letzter ein T.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.