Den Frisch mag ich so zeitweise

Lieblingsbücher? Ach, da hat er einige.
Wo soll er anfangen? Bei den absurden?
Daniel Charms, ist der erste Name, den er nennt; der, der verhungert ist. Dann Ionesco. Alfred Jarry mit seinem „König Ubu“, auch gut, natürlich.

Einfach reingegangen, ins Antiquariat des Ulrich Harsch am Ende oder Anfang des Rathausdurchganges, je wie man will. Ein klassisches Antiquariat, wie es sein soll: überall Bücher, Regale biegen sich, vorsichtig muss man um manchen der Stapel herumgehen, die sich vom Boden in Richtung Decke schrauben.
Was seine Lieblingsbücher sind, will ich vom Antiquar wissen; welche Autoren und Autorinnen er besonders schätzt, auch wen er von den Schweizern gern hat.
„Die Schwarzenbach“, sagt er sofort. Wen er auch mag, ist der Ludwig Hohl.
„Und Dürrenmatt! Dürrenmatt finde ich großartig. Er ist frech, er nimmt kein Blatt vor den Mund. Auch die kleinen Werke, wie das „Durcheinandertal“, kann man lesen, ist nichts Großes“, sagt er und zündet sich seine selbstgedrehte Zigarette an, die kurz erloschen ist: „Aber lustig zu lesen, auch bösartig, macht Spass.“

Dann eine lange Pause. Zeit, zum Nachdenken, muss sein.

„Den Frisch mag ich so zeitweise“, fährt er fort: „Dürrenmatt hat ihn ja mal als ‚Sauertopf‘ bezeichnet, ist er auch, wobei seine mittleren Romane, den Homo Faber, den Stiller, die finde ich sehr gut; ich lese die immer wieder, aber ich lese den Dürrenmatt lieber.“
Und zwischendurch liest er auch Krimis, aber die liest man nicht zweimal.
Dann schießt ihm Jelineks „Die Klavierspielerin“ durch den Kopf – „Jandl“, ruft er laut aus: „Hätte ich fast vergessen! Seit ich „Laut und Luise“ gelesen habe, vor 50 oder 60 Jahren, ist Jandl immer wieder jemand, den ich zur Hand nehme, nicht gerade täglich, aber vielleicht monatlich, zweimonatlich; wenn ich ein Gedicht daraus nicht mehr auswendig kann, dann muss ich mal nachschauen, dann lese ich wieder nach.“
Wobei Jandl gehöre ja auch zu den Absurden.

Sein Mitarbeiter fordere ihn immer wieder auf, gegenwärtige Literatur zu lesen – von Leuten, die noch leben. Er wiegt den Kopf leicht hin und her: „Tue ich auch, ab und zu, aber mit mässiger Begeisterung.“
„Das ‚Blutbuch‘ habe ich nicht gemocht“, sagt er: „Wobei: Schlecht fand ich es auch nicht. Aber ich habe nicht so ganz den Zugang gefunden. Als ich noch Buchhändler kannte, die jetzt alle in Rente oder tot sind, bin ich natürlich noch in Buchhandlungen gegangen, habe ich mir auch ab und zu etwas empfehlen lassen, es gekauft und gelesen, aber wenn ich jetzt in ein Orell Füssli gehe, dann bekomme ich Zustände: Lebensberater! Eheberater! Scheidungsberater! Kochbücher! Und dann irgendwo hinten auf einem Tisch die paar Neuerscheinungen, die in den Zeitungen gerade besprochen wurden, aber deswegen muss ich da nicht hin. Da, finde ich, gibt es nichts zu entdecken.“

Dann ein Schwenk, das Kino, die große Leinwand, die sein muss, manchmal fährt er dafür extra nach Zürich; das Theater, Marthaler, Stein, ja, auch schon länger her. „Ich weiss, ich weiss“, sagt er.
„Habe ich was vergessen? Nein! Außer die Kunst!“ Und dann wechseln wir noch ein paar Worte über Ausstellungshäuser und Ausstellungen, die wir gesehen haben, ich lobe das Winterthurer Kunstmuseum, drüben auf der anderen Strassenseite, ja, das könne sich zeigen lassen … „Ich glaube, jetzt sind wir mit meinen Leidenschaften langsam durch“, kürzt er ab; ich verstehe: Er möchte weiterarbeiten, ein Antiquariat ist am Ende auch ein Geschäft, es ist genug gesprochen.

Eine Geschichte hat er noch, da bin ich entlang der Regale gestreift; vielleicht, dass ich unter den vielen Büchern eines finde, das ich schon immer gesucht habe, aber wie das so geht: Mir will nichts einfallen, kein Name, kein Titel, der Kopf bleibt einfach leer. Finde dann doch in einem wackeligen Stapel noch nicht einsortierter Bücher neben der Eingangstür fast obenauf einen frühen Erzählband von Peter Stamm, den ich noch nicht kenne, den ich noch nicht besitze, was ich nun ändere. Und gehe zurück zu seinem Schreibtisch, bezahle mit einem dieser bunten Schweizer Scheine, erwähne beim Verabschieden Hermann Hesse, weil mir grad Hermann Hesse einfällt, der ja am Ende irgendwie auch ein Schweizer war.
Der Antiquar setzt sich kerzengerade hin, nimmt den Faden sofort auf: „Ich habe mal bei Nichtlesern übernachtet und fand dort Hesses „Wanderung durch das Tessin“. Eine kleine, schöne Schrift, nichts Besonderes. Aber Hesse erzählt, wie er da bei seinen Wandertouren immer wieder in ein Grotto einkehrt, einen halben Liter Wein trinkt, zum nächsten Grotto wandert, einen halben Liter Wein trinkt, zum nächsten Grotto weiterzieht, wieder einen Halben trinkt, noch ein Grotto ansteuert, und er kommt so immer auf fünf, sechs Stationen: das hat ihn mir sehr sympathisch gemacht, während ich damals „Das Glasperlenspiel“ nach ein paar Seiten weggelegt habe – so, haben wir’s?“

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.