Es tut mir leid. Ausgerechnet jetzt kann ich meinem Drang zur Chronologie nicht widerstehen. Ausgerechnet bei Muniras Geschichte, wo sich ja eigentlich ein Einstieg aufdrängen würde, überkommt mich dieser plötzliche Wunsch, die Dinge in eine zeitliche Ordnung zu bringen. Eigentlich sollte ich – ich weiss das – mit den Rollschuhen beginnen. Ich müsste berichten, wie Munira die letzten 25 Jahre immer mal wieder, meistens um diese Zeit herum, in den Keller hinuntergestiegen ist, den Manor-Sack mit den Rollschuhen in die Hand genommen hat – um ihn dann wieder zurückzulegen.
Munira kann sich nicht so richtig dazu durchringen, die Rollschuhe einfach einem Brockenhaus zu überlassen. Wieso, kann sie selbst nicht genau sagen – wahrscheinlich, weil sie sie an ihre ersten Jahre in der Schweiz, an ihre ersten Jahre mit Mario erinnern, an eine Zeit, in der alles einfach, in der alles gut war. Wie auch immer: Anstatt jetzt neben Munira im Keller zu stehen, ihr über die Schulter zu blicken, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Rollschuhe wieder an ihren Platz zurückstellt, dabei vielleicht lächelt, wer weiss, zwingt mich mein mir wirklich selbst unerklärlicher Drang also dazu, von vorne zu beginnen – damit, wie Munira in die Schweiz kommt.
Der erste Juni 1979. Es ist ein Freitag. Munira steigt, sie ist damals siebzehn Jahre alt, in Zürich aus dem Flugzeug. Die Sonne scheint, der Himmel; ein ruhiges Blau. Kaum hat sie die Zollkontrolle und die Gepäckrückgabe passiert, sieht sie, wie vereinbart, die Frau mit dem Schild «M-u-n-i-r-a». Die Frau ist ihre neue Arbeitskollegin. Denn Munira hat, wie sie da so in der Schweiz ankommt, volles schwarzes Haar, blutjung, dank ihrer Cousine schon einen Arbeitsvertrag in der Tasche. Ihre Cousine wohnt länger schon in Winterthur und hat Munira einen Job als Küchengehilfin vermittelt, dort, wo auch sie, die Cousine, schon arbeitet, bei Halters. Frau und Herr Halter. Das Ehepaar, das damals in Winterthur das Altersheim am Neumarkt leitet, werden für Munira mit der Zeit zu so etwas wie Eltern. Aber ich will, wie gesagt, nicht vorgreifen, Schritt für Schritt erzählen, sagen, was ich weiss – und was nicht. September ‘82.
Munira ist jetzt schon fast drei Jahre in der Schweiz. Mittlerweile arbeitet sie, das weiss ich, nicht mehr in der Küche, sondern im Zimmerservice des Altersheims. Diese Arbeit fällt Munira leichter als jene in der Küche. Auch sonst hat sich Munira, vermute ich, schon recht gut an die Schweizerinnen und ihr Schwiizerdütsch gewöhnt. Munira, die in der Türkei der aramäisch-orthodoxen Minderheit angehört und in Winterthur anfangs noch von den Halters unterrichtet wurde, besucht nun eine Sprachschule. Ohne Deutsch, das merkt Munira schnell, wird es hier für sie einsam werden. So beschliesst sie, Deutsch zu pauken, so richtig, und sie beschliesst, endlich mal wieder ihre Familie zu sehen. Ferien in der Türkei, Oktober ’82.
In der Türkei lädt ihr Cousin an einem Abend zum Essen – und macht Munira mit einem Mann bekannt. Es war, wird sie rückblickend sagen, Liebe auf den ersten Blick. «Nein, das gibt es wirklich», wird Munira insistieren, wenn sie, viele Jahre später, davon erzählen wird. Sofort, wird sie sagen, und ohne Berührung, wird sie sagen, alles nur über die Augen, wird sie sagen, hätten sie sich an jenem Abend verliebt.
Die Tage danach, wir sind also noch immer im Jahr 1982, verloben sich die beiden. Ihre Familie nimmt die Verlobung recht gut auf, rät ihr aber, nichts zu überstürzen, erst einmal zurückzufliegen, für ein Jahr, in die Schweiz, um, wie es Munira nennen wird, «Wahrheit zu finden». Vor dem Vater ihres Verlobten aber müssen sie die Verlobung zunächst geheim halten. Ein furchtbarer Mann, patriarchal und unnachgiebig. Aber wir wollen an dieser Stelle nicht allzu viel von ihm sprechen, bleiben wir besser bei Munira.
Zurück in Winterthur, verbessert Munira ihr Deutsch weiter. Selbst das mit dem Der-die-das – man muss die Artikel im Deutschen ja für die meisten Nomen einzeln auswendig lernen – will ihr immer etwas besser gelingen. Und nach Schulschluss, nach der Arbeit, am Abend in ihrer Personalwohnung überkommt sie, so nehme ich es heute an, die Sehnsucht. Denn sie schreibt, das weiss ich, in jener Zeit ganz viele Briefe an ihren Verlobten und bekommt keinen einzigen zurückbekommen. Der Vater ihres Verlobten, wird aus der Türkei zu hören sein, fängt die Briefe ab. Dann aber heisst es schliesslich plötzlich, dass sie heiraten sollen, die beiden, dass Munira zurückkommen soll. Anfang Dezember ’82.
Recht lange Wochen hat Munira nichts mehr, (kein Komma) direkt von ihrem Verlobten gehört. Aber Munira will in die Türkei reisen, um zu heiraten und sie will sich noch etwas kaufen, bevor es zurückgeht, etwas, das sie später an die Schweiz zurückerinnern soll. Und weil es eine gute Stereoanlage drüben nicht gibt, geht Munira ins Neuwiesen –und bestellt, man kann sich’s gut vorstellen, wie sie da so am Verkaufstresen von Burkhard steht, eine echte Grundig. In den zwei Wochen zwischen Bestellung und Kauf aber sollte sich alles ändern. Auftritt: Bruder des Verlobten und seine Schwägerin. Mitte Dezember ’82.
Die beiden Verwandten ihres Verlobten wohnen auch in der Schweiz und besuchen Munira nun in ihrer Personalwohnung im Altersheim am Neumarkt. Ein katastrophaler Besuch. Es kommt zum Streit. Was genau passiert, ich weiss es nicht, der Besuch aber sagt irgendwann zu Munira: «Man wird keine Dame, nur weil man ins Hamam geht.» Mit dem türkischen Sprichwort meinen die beiden Besucher: «Du hast nicht genug Klasse.» Sie meinen: «Du bist nur Putzfrau.» Munira jagt die beiden zum Teufel. Und das war’s dann. Auch mit ihrer Verlobung. Nie mehr wird sie etwas von ihm hören.
Mitte Dezember 82. Als sie zu Burkhard zurückgeht, um die Grundig zu bezahlen, die sie bestellt hat, ist er da, Mario. Mario ist Verkäufer bei Burkhard. Er ist nett, er ist witzig und er kommt, zusammen mit seinem Kollegen Rolf, persönlich vorbei, um bei Munira zuhause die Grundig zu installieren.
Was sie dort alles sprechen, wer weiss da schon. Aber das Gespräch kommt in den Gang. (Punkt) «Rolf ist es gewohnt, im Staub zu schwimmen», sagt Mario. «Bei mir ist es nicht staubig», sagt Munira. Schliesslich erzählt Mario, dass er oft als Beifahrer mit Ruedi unterwegs sei, weil dieser demnächst die Fahrprüfung machen wolle. Als Munira, meint, so jemanden bräuchte sie eigentlich auch, bietet sich Mario an.
Dann: Sommer 83. Mario und Munira sind längst ein Paar, als Munira nach Zürich zieht. Die Halters haben Munira einen Ausbildungsplatz zur Pflegegehilfin in Zürich beschafft, Munira kauft sich ein Mofa – und: Rollschuhe, im Jelmoli. Das Leben beginnt.
Mario kann damals schon recht gut Rollschuhfahren. Und Munira will es können, ist neugierig, brennt für alles, was neu ist. Zum Üben zieht Munira sich mitten im Sommer die Skihandschuhe an, um ihre Hände zu schützen.
Bald gehen Munira und Mario, es sind die schönen Achtziger, an die Rollschuh-Disco auf die Landewiese in Zürich-Wollishofen. Da ist eine Wiese, daneben ein Parkplatz, auf dem man fahren kann. Musik aus Boxen wabert in der Sommerhitze über den asphaltierten Platz, Stones, Madonna, Thriller von Jackson. Sie gehen baden, die beiden. Munira in ihrem türkisfarbenen Bikini, sie hat es neu gekauft. Dann bindet sich Munira ein Tuch um die Hüften, Mario zieht seine Blue Jeans an, und sie fahren los, mit den Rollschuhen dem Zürisee entlang. Die kleinen Momente halt, die das Leben gross machen. Munira fährt schon recht gut, nur beim Rückwärtsfahren fällt es ihr noch immer schwer, mit dem linken Bein Kurven zu machen. Es folgen schöne zehn Jahre in Zürich. Dann: 1993.
1993 zieht Munira zu Mario nach Winterthur.
1993 kauft sie mit ihrer Cousine zusammen ein Haus im Rheintal.
1993 geht es nicht mehr, in der Türkei, meine ich.
Als der Dorfvorsteher zusammen mit fünf weiteren ihrer Leute von er türkischen Fanatikern erschossen wird, besteht Munira darauf, dass ihre Eltern endlich flüchten. Ihre fünf Geschwister sind da längst schon nach Europa ausgewandert. Die Eltern aber, respektiert im Dorf, mit ihrem Laden, der Vater steht der Post vor, wollten lange nichts davon hören. Doch der Vorfall rüttelte auch sie auf. An Weihnachten 1993 werden sie zu Munira in die Schweiz reisen – und nie mehr heimkehren.
Zwei Jahre später heiraten Munira und Mario. 2000 kommt Gabriel auf die Welt. Im selben Jahr verschwinden die Rollschuhe im Keller, für lange. Und damit wäre Muniras Geschichte natürlich längst nicht fertig erzählt, mit den Rollschuhen, die im Keller landen und dort vorerst bleiben. Ich könnte, nein, ich sollte jetzt noch so einiges berichten, müsste davon erzählen, wie der ehemalige Heimleiter, Herr Halter, Munira, nach all den Jahren, an seinem neunzigsten Geburtstag, in einem Restaurant in Luzern, schliesslich doch noch das «Du» anbietet. Ich müsste vielleicht auch erzählen, von den beiden Beerdigungen der Halters, den Grabreden. Stattdessen will ich nun aber endlich mein Versäumnis nachholen und die gute Gelegenheit ergreifen und diesen Text damit schliessen, wie ich ihn schon hätte beginnen sollen: mit den Rollschuhen im Keller.
Die Rollschuhe mit dem rotweissen Innenleder, den roten Rädern und dem aufgenähten Regenbogen auf der Seite liegen also nun schon seit 25 Jahren im Keller. Sohn Gabriel hat sich, wer will es ihm verdenken, all die Jahre über nicht wirklich dafür interessiert, nicht nur, weil in den Neunzigern die Inline-Skates aufkommen, sondern auch, weil er lieber Trottinett fährt. Und so sind sie, die alten Rollschuhe, noch immer dort unten im Keller. Und Munira weiss natürlich, dass sie sie nie mehr brauchen wird. Doch die alten Rollschuhe einfach so einem Brocki überlassen, das kann sie dann doch nicht. Wahrscheinlich, weil sie längst zum Symbol geworden sind, sie stehen für die kleinen Momente, die kleinen Momente, die ein Leben gross machen.