«Irgendwann, wenn ich mal gross bin, fahre ich dahin, wo der herkommt.»
Der, das ist Vorname: Theodor, und Nachname, das ist: Storm. Theodor Storm also.
«Ich habe Storm-Gedichte gelesen, die Storm-Novellen, und ich habe das geliebt», sagt sie mit Kraft und Inbrunst, da sitzen wir seit zwei, drei Minuten auf einer der hinteren Bänke auf dem Kirchplatz, wo es bald schattig ist und man es gut aushalten kann, wenn in Winterthur die Sonne brennt.
Und: Wir können uns gerne duzen, schlägt sie vor, bietet es an: Yvonne – Frank; Frank – Yvonne.
Denn ihr Ort, den sie mir verrät, das ist bei mir fast vor der Haustür, das ist die Nordsee, das ist Nordfriesland, ganz klassisch sei sie darauf gekommen, durchs Lesen, durchs Lesen von Theodor Storm.
Und an einem Nachmittag, beim Lesen, so stelle ich es mir vor, sagt Yvonne zu sich, sagt es leise und flüsternd: ‹Irgendwann, wenn du mal gross bist, dann fährst du da hin, wo der herkommt, ja? Versprochen? Aber wirklich!›
Sie ist gross, wie man sagt, wenn man ‹erwachsen› meint, da ist sie noch unter 30 oder knapp darüber, als sie das allerallererste Mal vor Ort ist: «Wir waren an der Ostsee, in der Nähe von Bad Segeberg, im Urlaub.» Und sie schauen kurz an der Nordsee vorbei.
«Aber dann, vor genau 30 Jahren, da hatte ich fast ein Burn-out, es ging mir nicht gut, und ich musste mal weg.»
Zur Auswahl stehen der Genfersee und die Nordsee.
Die Preise entscheiden, Husum ist so viel günstiger: «Also bin ich zum ersten Mal ganz allein nach Husum gefahren, und im Regionalzug ab Hamburg-Altona habe ich eine Frau kennengelernt, eine Buchhändlerin aus Friedrichstadt, und das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft – bis sie gestorben ist, vor ein paar Jahren.»
Eine kleine Pause entsteht, um uns herum rennen Kinder, eine Gruppe Erwachsener erprobt die Automatiktür der Stadtkirche: Von selbst geht sie auf, von selbst geht sie wieder zu, wenn man sie lässt.
«Und wenn ich wieder hochfahre», sagt Yvonne, «wie in ein paar Tagen, dann sage ich: ‹Ich fahre heim, ich gehe heim.› Nordfriesland, das ist meine Herzensheimat, mein Ort.»
Das platte Land. Das raue Klima. Der Wind, der unaufhörlich weht. Der hohe Himmel. Und der weite Blick. Der Geruch nach Salz und der Geruch nach Meer. Dann: Tetenbüll in Eiderstedt. Die Insel Nordstrand. Und Seebüll, natürlich, mit dem Emil-Nolde-Museum, das muss hin und wieder sein. Dann raus aufs Wasser zu den Halligen. «Und in 30 Jahren findest du natürlich auch Freunde, dann fährst du sie besuchen», sagt sie.
«Und wenn du Sorgen hast, wenn dich etwas bedrückt, dann gehst du am Deich spazieren, lässt dich richtig durchpusten, du spürst die Kraft der Natur, hier ist die Unendlichkeit und diese Weite auch, du wirst Ameisen-klein, nein, du wirst Sandkorn-klein. Und das, was dich bedrückt, ist gleich nicht mehr so gross», sagt sie.
Sie sagt: «Du bist nicht mehr der Mittelpunkt, der du ja sonst immer bist.»
Jetzt im Alter dort hinziehen, das passt nicht mehr. «Ich habe Familie, und mein Partner, der wäre nie von Winterthur weggezogen – seine Herzensheimat ist auf der Schützenwiese, das ist sein Ding.»
Er darf ab und zu mal mitkommen. Das ist auch schön. Aber besonders schön ist: Allein dort zu sein. «Du kannst alles machen, wozu du Lust hast, du kannst alles, du musst nichts. Das ist die wirkliche Freiheit. Und dann komme ich wie neu aufgeladen wieder zurück.»
Wobei: Zurückkommen, das ist nicht einfach.
«Ich fahre immer mit Heimweh im Herzen. Beim letzten Mal, ich fahre jetzt mit dem Auto, habe ich von Husum bis Heide geheult. Ich war noch nicht bereit wegzugehen: Bevor ich gefahren bin, war ich noch bei meiner Freundin am Grab, und das war vielleicht zu viel, es fiel mir schwer, loszulassen.»
«Wenn ich hinfahre, fahre ich voller Freude zum Friedhof, ich gehe Antje besuchen, ‹Ich fahre jetzt zu Antje›, sage ich mir», sagt sie. «Das ist so, wie es früher war, wenn ich zu ihr in den Buchladen bin. Bis ich dann am Grab stehe – und dann wird mir bewusst: Sie ist ja nicht mehr. Und dann kommt die Trauer. Aber das gehört zu unserer Freundschaftsgeschichte dazu.»
Neulich hat sie sich die gesammelten Theodor-Storm-Werke gekauft. Drei Bände im Schuber, Dünndruck: «Gerade lese ich die Briefe, die Storm an seine Constanze geschrieben hat.» Husum habe auch eine schöne Stadtbuchhandlung. «Und der Westerhever Leuchtturm, der hängt bei uns auf Leinwand, den sehe ich vom Esstisch aus, und dann ist da der Westküsten-Kalender und der grossformatige Bildkalender: ‹Das Wattenmeer›.»
«Kennst du das?», fragt sie: «Wen sich etwas in dir löst, so als ob Eisenringe, die deinen Körper umschliessen, plötzlich aufspringen und du tief und frei durchatmen kannst?»
Der erste Eisenring platzt, wenn Hamburg in Sicht kommt, wenn sie durch den Elbtunnel ist.
Der zweite Eisenring löst sich, wenn sie den Kreis Dithmarschen erreicht.
«Und wenn ich über die Eiderbrücke gefahren bin, dann ist der letzte Ring geplatzt.»
Yvonne sagt: «Ich weiss, das klingt so kitschig, aber es ist einfach so.»