Zwei Elefanten aus Sandstein

Vielleicht kündigen sie mir diesmal.
Sagen: bei aller Geduld und Nachsicht und trotz der langen Zeit, aber so sei das nicht gedacht. Da gäbe es andere, die gerne so einen Schrebergarten hätten; die sich an die Spielregeln halten würden, die Liste der Wartenden sei recht lang.

Ein Drittel der Fläche für Rasen, ein Drittel für den Anbau von Obst und Gemüse, ein Drittel für die Laube und den Schuppen und den Plattenweg dorthin. So steht es im Pachtvertrag, das wissen Sie doch, das muss man ja nicht erklären. Aber bei Ihnen? Wir sehen da nur Unkraut. Beete? Nicht zu erkennen. Hinter der Laube alles zugewachsen. Die Bäume: viel zu hoch, und sie stehen auch viel zu dicht. Und die Hecke müsste niedriger sein, um mit dem ersten Eindruck anzufangen. Man kann nicht alles einfach so wachsen lassen und sich nicht darum kümmern. Und sie schütteln den Kopf und gehen wieder, die drei Männer vom Vorstand, die wie jedes letzte Wochenende im Oktober unterwegs sind, Garten für Garten, das Wasser ist schon abgestellt, die Wasseruhren sind abmontiert, bald kommt der erste Frost und man packt besser weg, was wegzupacken ist.

Vielleicht also kündigen sie mir, diesmal.
Ein Vierteljahrhundert habe ich diesen Garten. Da war ich somit 25 Jahre jünger, als ich das erste Mal durch die Pforte trat, die damals noch so fest in den Angeln hing, dass sie quietschte.
Dieser Garten. Ich liebe ihn.
Auch wenn ich weiss, dass man seine Frau liebt oder seinen Mann, seine Kinder, wenn man welche hat, den Hund, vielleicht seine Eltern, das geht auch noch. Aber einen Garten? Einen verwilderten Garten?

Die Nachbarn, rechts: zuerst das Ehepaar Maeffert. Sie waren nicht mehr jung, Frau Maeffert war blind, und er rauchte ohne Unterlass. Es war rührend, wenn sie den Sandweg entlangkamen, vom Parkplatz mit dem Holzschild ‹Kleingartenverein Fasanenmoor›, sie bei ihm eng untergehakt, er öffnete die Pforte, er führte sie zu ihrer Laube, schloss auf, holte einen Stuhl heraus, drehte die Markise langsam und beharrlich hervor, bis seine Frau im Schatten sass.

Wir grüssten uns, wechselten ein paar Worte. Dann machte er sich an die Arbeit. Konzentriert und entschlossen: Unkraut zupfen, Büsche beschneiden, Setzlinge pflanzen, Kompost verteilen, Kalk ausstreuen, den Rasen mähen, der bei ihm immer kurz und dicht stand, wie eben erst frisch ausgesät und angewachsen. Dazwischen: rauchen. Stehen und rauchen, genussvolles Rauchen. Die Kippen in einem kleinen Glas sammeln, in dem mal Honig war. Das Bücken fiel ihm langsam schwer. Und dann immer schwerer, und nach dem einen Winter, als mir vom Frost die Regentonne platzte, da kamen sie nicht wieder, die beiden. Es wurde Frühling, dann Sommer.

Manchmal lege ich mich der Länge nach auf den Rasen. Der mehr eine Wiese ist, mit Giersch, Günsel und Löwenzahn und Spitzwegerich und sonst was und dazwischen ein paar dunklere Rasenflecken. Ich schaue in den Himmel, das Stück, das mir die ausladenden Äste mit ihrem dichten Blattgrün lassen. Der Garten, mein Garten hat entsprechend viele Vögel, die sich wundern, wenn ich plötzlich auftauche; wenn ich da liege, langgestreckt; wenn ich Stuhl und Tisch nach draussen stelle, um zu lesen, um zu schreiben, wie jetzt; um nachzudenken, über was auch immer, das Leben, die Nachrichten, die Kriege, die Politik, die Zeit, die weniger wird. In diesem Sommer kam ein Eichelhäher-Paar. Hübsch anzusehen, allein das blaue Untergefieder; aber Räuber, die an die Nester der anderen gehen, an die Eier, an die frisch geschlüpften Jungvögel, da muss man sich nichts vormachen.

Nach den Maefferts übernahmen die Russlanddeutschen den Garten nebenan. Sie waren zu zweit, eigentlich zu dritt, doch der Sohn wohnte offenbar nicht mehr zu Hause, er kam seine Eltern aber regelmässig besuchen, zeitweise jeden Sonnabend. Parkte seinen schweren, tiefergelegten, blau-chrom-farbenen Sportwagen vor der Gartenanlage, über der Tanköffnung stand in Druckbuchstaben: Schluck, du Luder!
So einer war das, Stiernacken, aufgepumpte Oberarme, raspelkurzes Haar. Trug Grillfleisch in durchsichtigen Plastiktüten mit sich, man sah die Fleischstücke in einer dünnen, hellroten Brühe sachte hin und her schwappen. Berge von Grillfleisch brachte er mit. Dazu Zwiebeln, Kartoffeln, Bier. Und seine Drum-Box, die er aufstellte, auf einem Hocker, mitten auf dem Rasen. Und dann:

Uffta! Uffta! Uffta! Uffta! Uffta! Uffta!

Anfangs trat der Vater noch an den Gartenzaun, rief nach mir, schwenkte die Wodkaflasche, schraubte sie auf, ob ich nicht rüberkommen wolle, sie hätten von allem genug und mehr als das, und wir würden uns doch noch gar nicht kennen. Und dazu:

Uffta! Uffta! Uffta! Uffta! Uffta! Uffta!

Ich lehnte so lange ab, bis er es sein liess, dabei war er durchaus hartnäckig. Und jedes Mal war es von der einen auf die andere Minute plötzlich still. Musik aus, der Grill aus, Markise eingedreht, alles in Windeseile zusammengepackt, Gartenpforte abgeschlossen, ich hörte sie ihre Autos starten. Und weg waren sie.

Die neuen Nachbarn kenne ich noch nicht näher. Sie sind seit diesem Sommer da. Eine junge Familie, zwei sehr lebhafte Kinder, die viel rennen; die sich streiten und die sich wieder vertragen, Geschwister eben. Zwei Elefanten aus grauem Sandstein stehen vor der Pforte, links und rechts, kniehoch. Sie setzen langsam Moos an, es ist eine feuchte Gegend; moorig, tief gelegen, Kartoffeln pflanzen, das kann man sich sparen. Es ist immer ein paar Grad kühler denn in der Stadt. Der Schwammspinner hat in den letzten Jahren viel gewütet.

Manchmal kommt er, der junge Vater von nebenan, mitten in der Woche, wenn ich meistens da bin, um meine Ruhe zu haben. Er steht dann auf seiner Terrasse, viel Werkzeug liegt um ihn herum. Neulich hat er angefangen, eine Tür abzuschleifen, hat es aber nach der Hälfte wieder gelassen.
Oder vor ein paar Tagen, da steht er mitten auf dem Rasen und lässt seinen Akkuschrauber sirren.

Sirrrr! Sirrrr! Sirrrr! Sirrrr! 

Ob der Akku noch aufgeladen ist, ob er noch Kraft hat, wollte er vermutlich wissen. Er hielt das Gerät wie eine Pistole seitlich von sich weg. Legte es wieder beiseite. Klopfte mit dem Hammer irgendwo etwas fest, holte Wasser in einem blauen Eimer, fing an, ein Beet umzugraben, zog an einem Ast, um zu prüfen, ob der noch stabil ist, holte einen Sack Komposterde, fing an, die grossflächig zu verstreuen, zog sich seinen olivgrünen Pullover aus, hängte den über einen Zaunpfahl, der etwas schief stand und den er nun geraderückte.

Manchmal stehe ich da und mag nicht gehen. Ich schaue mich um, die Autoschlüssel in der Hand. Es wird langsam feucht. Vielleicht muss ich den Garten aufgeben. Vielleicht wäre das vernünftiger. So zugewachsen, wie er ist. Völlig aus der Form geraten. Aber jetzt noch nicht. Der Schmetterlingsflieder hat sich noch weiter ausgebreitet, ist mit der Krone des Apfelbaums, der kaum noch trägt, verwachsen. Was zu wem gehört, ist kaum zu erkennen. Das Dach müsste gemacht werden oder wenigstens die Regenrinnen. Ich müsste alles mal wieder streichen. Und so stehe ich da und schaue auf das vertraute Grün in all seinen Schattierungen, heller und dunkler. Von nun an zählt jeder Sommer.

Frank Keil

Geboren und aufgewachsen in Hamburg an der Elbe. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er als freier Kulturjournalist und Autor unterwegs. Diverse Texte und Strecken für den ERNST; ausserdem Mitbetreiber der Plattform www.maennerwege.de. Aktuell schreibt er an seinem autofiktionalen Romanprojekt „Ich weiss nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“, für den er 2022/23 einen Literaturpreis der Stadt Hamburg erhielt. Ausserdem Bahnfahrer, Frühaufsteher, Kleingärtner und Mettbrötchen-Fan.