Man muss nur hinsehen

Als es an jenem Frühlingstag auf die Welt kam, war ich natürlich wieder mit dabei. Wie so oft sass ich auf der Bank am See, wie so oft schaute ich zu ihr rüber, zur Schwanenmutter. Auf einmal begann sie zu schnattern. Und ich dachte noch, weil ihr Mann gerade nicht da war: „Mit wem spricht die jetzt bloss?“ Und dann reckte sie ihren Kopf in die Höhe.

In etwa so.

Und dann schüttelte sie sich kurz.

So.

Und dann stand sie auf. Und dann sah ich es.

Ich sah das frischgeschlüpfte Junge, ich sah es verklebt zwischen Eierschalen sitzen. Ich nannte es Mila. Es sollte dieses Jahr das einzige Junge des Schwanenpaares bleiben.

Ja, es ist schon ein Wunder, ja, es ist schon mein Ort. Dort unten an den See muss ich niemanden mitnehmen, meinen Mann vielleicht, aber auch das muss jetzt nicht unbedingt sein, also, am liebsten bin ich alleine dort, am liebsten bin ich alleine bei den Schwänen. Zwei, drei Stunden kann ich einfach so dasitzen und die Schwanenfamilie beobachten. Wusstest du, dass die zur Begrüssung den Kopf heben? Also, wenn der Mann heimkommt und die Frau schon da ist, nicken sie sich so zu.

Man erkennt sich schon wieder in den Schwänen.

Die sind ja auch – wusstest du das? – meist ein Leben lang ein Paar. Auch Erziehungsfragen haben sie in so einer Schwanenfamilie, und Streitereien haben sie, und sie sind unglaubliche Tiere, sie sind unglaublich sozial. Man kennt das von Schwänen, man weiss das, man sieht das.

Ja, man muss ihnen einfach nur zusehen.  

Manchmal sehe ich, wie die Schwanenmutter ihren Mann ausschimpft. Dann muss ich lachen. Und diese Tiere mit den furchtbar langen Hälsen sind mir dann so furchtbar vertraut. Und ich hab schon das Gefühl, Schwäne immer besser zu verstehen. Ja, wenn man so oft wie ich, also mehrmals wöchentlich, und das seit Jahren schon, runter zum See geht, lernt man diese Tiere schon kennen.

Ich begleite sie durch ihre Jahre. Und sie begleiten mich durch meine. Und ich bin Musikschullehrerin. Und kehre ich nach einem Besuch bei den Schwänen heimwärts, haben sich meine Probleme zwar nicht unbedingt in Luft aufgelöst – noch immer weiss ich nicht, ob ich mit der Schülerin heute wirklich zu streng war oder welchen Posten ich im Sporttag übernehmen soll –, aber: Meine Probleme sind weniger drängend geworden. Schaue ich den Schwänen zu, bekommt alles seinen Platz.

Ja, auch damals war das so.

Es ist nun schon fünf Jahre her.

Es war im Frühling, die Mutter ging mit ihren Küken zum allerersten Mal ins Wasser, aber ein Nachzügler schaffte es nicht, mitzukommen. Es war zwei Tage später als die Andern geschlüpft, hatte noch wenig Kraft und versuchte vergebens, mit seinen Geschwistern mitzuhalten. Die Mutter stupfte es deshalb etwas unsanft mit dem Schnabel ins Nest, wo es ganz allein zurückblieb. Und diese piepsigen Klagelaute von sich gab.

Und ich hätte ihm so gerne geholfen. Und ich konnte nichts tun. Ich sah, wie es da so lag und vor Anstrengung zitterte. Und ich konnte einfach nichts tun.

Mein Vater war damals gerade, das ist jetzt alles, wie gesagt, schon rund fünf Jahre her, mit seiner neuen Freundin ausgewandert. Er ging in die Fremde, um zu bleiben. Und dann kam plötzlich der Schwanenvater zum Nest zurück. Er war zurückgekommen, der Vater des Kleinen, und überwachte seine ersten Schwimmversuche in einer Pfütze.

Schliesslich lernte der Nachzügler das Schwimmen so doch noch. Und alles wurde wieder gut, bei den Schwänen. Und übrigens auch zwischen mir und meinem Vater. Das ist ja, wie gesagt, schon fünf Jahre her. Und auch wenn mein Vater nicht in der Nähe ist, ist er da für mich.

Und wusstest du, dass Schwäne, wenn sie Futter suchen, ihre langen Hälse zur Seite beugen?

In etwa so.

Sie schauen dann mit einem Auge aufs Wasser.  

So.

Auf dem Kirchplatz erzählt uns Nathalie zwischen Tauben – von Schwänen.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.