Das Parkcafé war noch geschlossen, der Park menschenleer. Nur der Gärtner, der uns nicht grüsste, war da und das schale Gefühl, versagt zu haben.
Zuvor telefonierten wir – mein Mann, meine Tochter, die Fachfrau der Spitex und ich – eine Stunde mit dem Psychologen. Wir waren uns alle einig: Ein Aufenthalt in der Psychiatrie war für meine Tochter Sophie nun das Beste. Sophie war damals knapp achtzehn Jahre alt und litt seit über einem Jahr schon an diesem Postcovid. Und das mussten wir nun stationär behandeln lassen. Es ging nicht mehr anders.
Für uns war die Krankheit, an die so viele gar nicht glauben mochten, längst Alltag geworden. Immer diese Müdigkeit, immer diese Gelenk- und Nervenschmerzen, dieses Kopfweh und die Konzentrationsprobleme. Nach einer Woche dachten wir noch, naja, das ist jetzt aber eine hartnäckige Grippe, dieses Covid. Nach zwei Monaten bleierner Müdigkeit und Schmerzen wurden wir nervös. Und als nach zwei Jahren die Schwere im Körper und die Erschöpfung noch immer da waren, drohten wir daran zu verzweifeln.
Der Alltag meiner knapp volljährigen Tochter, die jetzt eigentlich ausgehen, mit Freundinnen mitten in der Nacht baden und mit wehendem Haar Vespa fahren müsste, war der Alltag einer Betagten geworden. Fuhren wir von einem kurzen Ausflug nach Hause, schlief Sophie auf dem Rücksitz des Autos ein. Die Tage verschwammen, fransten aus, alles ging in dieser bodenlosen Müdigkeit verloren, selbst Sophies Wille zu leben. Ich verstand das, ich verstand, dass meine Tochter an ihre Grenzen kam, und ich habe verstanden, dass für sie jetzt ein Aufenthalt in einer Psychiatrischen Klinik das Beste war.
Nach dem Telefonat mit dem Psychologen musste sich mein Mann an den Computer setzen, um zu arbeiten. Und ich schlug Sophie einen Ausflug vor, weg von zu Hause, weg vom Dorf, in die Stadt, nach Winterthur, in den Museumspark am Römerholz. Die öffentliche Parkanlage neben der ehemaligen Villa des Kunstsammlers Oskar Reinhart ist einer meiner Lieblingsorte in Winterthur. Und so zogen wir uns über, was grad da war –ich eine Wolljacke und Sophie eine Daunenjacke –, stiegen ins Auto und fuhren los.
Während der Fahrt weinten wir nicht.
Die meiste Zeit sassen wir einfach schweigend nebeneinander. Nur wenige tröstende Sätze wie «Das ist nun sicher das Richtige» oder «Das kommt schon gut» platzierten wir vorsichtig in den Innenraum des Autos. Dort trieben sie auf der Oberfläche unseres Schweigens wie Ankerbojen.
Auf dem Parkplatz trafen wir noch ein paar «Hündeler» an, im Park aber war, wie gesagt, nur der Gärtner, der mir neben seinem Wirrwarr aus toten Ästen etwas verloren vorkam. Sophie und ich betraten den Park durch den Torbogen neben dem Café, beide mit der Fotokamera in der Hand, und schossen ein erstes Foto. Dann liefen wir an der gusseisernen Statue vorbei, die uns mit ihren leeren Augen unverwandt ansah, und schossen ein zweites Foto. Der Kies muss, wie wir da so verausgabt dem Weg entlanggingen, unter unseren Schuhsolen geknistert haben. Daran erinnere ich mich jedoch kaum, ich erinnere mich nur daran, wie langsam wir gingen. Meine zweite Hüft-OP lag noch nicht lange zurück.
Schliesslich verliessen wir den Kiesweg und liefen über die Wiese, die von Schnee und Regen wohl noch ziemlich aufgeweicht gewesen sein muss. Etwas ungläubig schauten wir auf die blühenden Krokusse, die den bevorstehenden Frühling ankündigten. An sie erinnere ich mich noch gut und auch daran, dass vom Wald her Vögel zu hören waren.
Dann liefen wir die Treppe zum Brunnen mit den zwei Statuen hoch. Dort tauchte ich meine Hand ins Wasser, zog sie aber recht schnell zurück. Es war eiskalt. Und der aus Stein gehauene Mann war nackt. Er war nackt und hatte dennoch diesen doofen Hut auf, was mich irritierte, was einfach nicht so richtig zusammenpassen wollte, nichts passte mehr so richtig zusammen.
Wieso konnte ich meine Tochter nicht vor all dem bewahren?