Dort ist Afrika!

Jemand geht immer in die Sporthalle. Verlasse ich am Abend das Schulhaus und gehe ich über den Pausenplatz vorbei an den leeren Pflanzenkisten, in denen partout nichts wachsen will, kreuze ich immer Mitschülerinnen oder Lehrer. Sage ich nicht «Hallo» oder «Grüezi», lächele ich ihnen immerhin zu. Einfach an ihnen vorbeigehen könnt’ ich wohl nicht. Ich mag es, zu grüssen und zurückgegrüsst zu werden. Vor allem im Gesicht von älteren Menschen bleibt nach einem Gruss oft ein Lächeln zurück.
Im Winter fällt der Schulschluss oft mit dem Sonnenuntergang zusammen, das heisst, er fällt oft fast mit dem Sonnenuntergang zusammen. Wenn ich um halb fünf aus dem Schulhaus komme, ist die Sonne meist schon hinter dem Wald verschwunden, doch der Himmel leuchtet noch immer in allen Rottönen. Etwas passiert dann. Etwas Schönes. In mir drin. Die Schule liegt hinter mir, der freie Himmel vor mir, es ist wohl einfach das schöne Gefühl, etwas vollbracht zu haben.
Gehe ich dann die Strasse hinunter, vorbei an der Pferdeweide, kommen mir immer recht viele Menschen entgegen. Ich sehe gerne in ihre Gesichter. Meistens höre ich auf dem Heimweg auch Musik über meine Kopfhöher, Songs aus den Achtzigern und Neunzigern, Micheal Jackson, Beat it. Der Wald am Horizont leuchtet im letzten Licht des Tages. Im Winter glitzert der Schnee über dem grünen Streifen.
Vor dem Wald eine Weide für die Schafe, auf ihr stehen zwei Bäume. Sie stehen dort seit jeher, stehen etwas krumm. Sie erinnern mich an Palmen, und wenn ich sie in der Ferne sehe, muss ich immer etwas lächeln. Als ich fünf, vielleicht sechs Jahre alt war, war ich felsenfest davon überzeugt:
D-O-R-T I-S-T A-F-R-I-K-A!
Sehe ich die Bäume, kommt mir das nun in den Sinn. Und ich staune, wie klein die Welt sein kann.
Ich laufe am braunen Gartenzaun entlang, vorbei an dem frischgestrichenen Haus, das ich so mag. Es ist rosa, und manchmal kläfft mir von dort der kleine Hund mit den enggedrehten Locken entgegen, vielleicht ein Lagotto Romagnolo. Und auf einmal überkommt mich das Gefühl, irgendwo anders zu sein. Es riecht wie in England, frisch, betörend frisch. Ich war noch nie dort, aber genauso muss es dort sein, genauso stelle ich es mir vor, E-n-g-l-a-n-d.
Ich wechsele die Strassenseite, sehe in der Ferne bald schon unsere Siedlung, sehe die vielen Bäume dort, sehe die weiss-beigen Mehrfamilienhäuser. Und dann ist alles gut. Die ganze Last fällt von mir ab. So viel auswendig lernen müssen wir in der Schule, vor allem für «Wirtschaft». Ich mein’, ich mag das Fach Wirtschaft, wirklich, ich lern’ gern. Aber manchmal ist es einfach viel, zu viel.
Doch wenn ich jetzt unsere Siedlung sehe, denke ich kaum mehr an die Schule. Für Aussenstehende ist sie wohl ein Labyrinth. Ich aber kenne jeden Weg. Die Häuser sind kreisförmig um einen Spielplatz angeordnet, Reihe um Reihe, wie die Schichten einer Zwiebel. Und noch bevor ich die kleinen Kinder aus der Siedlung sehe, höre ich sie spielen. Sie fahren Trottinett oder Velo – wie ich es damals tat. Schliesslich stehe ich vor unserem Wohnblock und krame den Schlüssel aus meiner Schultasche.
Vor dem mehrstöckigen Haus steht der Baum, der im Frühling so wunderbar rosa blüht. Vielleicht ist es ein Sakura. Ich liebe es, in seinem Schatten Fantasy-Bücher zu lesen, während der Wind Blütenblätter regnen lässt. Ich mag den Frühling, ich mag die Bäume. Sie sind wichtig für mich, vielleicht auch, weil wir während eines ganzen Schuljahres immer mal wieder an diesem Baum weitergezeichnet haben. Wir zeichneten ihn während aller Jahreszeiten, in all seinen Phasen, in all seinen Farben. Er begleitete mich die ganze dritte Klasse über.
Schaue ich, bevor ich die Türe aufschliesse, zum Nachbarhaus hinüber, sehe ich eine Lücke. Früher stand dort auch ein Baum. Mit einer Freundin habe ich, wir waren noch ganz klein, im Herbst dort oft gespielt. Wir haben sein Laub zu einem grossen Haufen zusammengetragen und uns darin versteckt oder sind draufgesprungen. Auch haben wir eine Art Kesselzug gebaut. Wir zogen den Kessel voll Laub in die Höhe, als bauten wir an der Welt. Als der Baum schliesslich gefällt wurde, war ich sehr traurig. Damals war ich fünf oder sechs Jahre alt. Niemand hat mich vorgewarnt. Eines Tages war er einfach nicht mehr da.
Es ist ein seltsamer Gedanke für mich, dass, wer neu in die Siedlung zieht, gar nicht weiss, dass dort dereinst ein Baum gestanden hat. Ich trete in das Treppenhaus und gehe zur Wohnung hoch. Sperre ich die Haustüre auf, springt Sinta in der Wohnung bellend vom Bett meiner Eltern und kommt zur Tür, um mich zu begrüssen. Sie wedelt mit dem Schwanz und springt an mir hoch. Ja, ist ja gut, auch ich freue mich, sie zu sehen. Neben uns steht die Kommode, darauf die immer volle Früchteschale. Dann gehe ich im Gang ganz nach hinten, vorbei am Esstisch, vorbei an der Stube, um dort meine Jacke aufzuhängen. Beim Vorbeilaufen schaue ich kurz in jeden Raum, als wollte ich mich vergewissern, dass alles noch da ist.
Meistens bin ich als Erste zuhause. Mamma arbeitet lange, Papa noch länger. Und meine Schwester ist im zweiten Lehrjahr. Manchmal vergessen sie, wenn sie am Morgen in Eile losziehen, das Radio auszuschalten, was ich, ehrlich gesagt, sehr mag. Ich finde es schön, wenn mich beim Heimkommen eine Stimme aus dem Radio begrüsst.
Gehe ich schliesslich in mein Zimmer, um dort die Schulbücher auf dem Boden auszubreiten, darf es auch nicht still sein. Ich lerne immer auf dem Boden, und wäre es ganz still im Zimmer, könnte ich nicht so gut lernen. Doch bevor ich aber damit beginne, liege ich einen Moment lang einfach nur so da. Da bin ich also wieder, in meinem Zimmer.

Die 15-jährige Zora wohnt in einem Dorf bei Winterthur und erzählt von ihrem Schulweg, von ihrem Zimmer. Und – von ihren Bäumen.

Adrian Soller

Autor, geboren 1981 in der Schweiz, studierte am Medienausbildungszentrum (MAZ) und an der Universität Hamburg. Er publiziert in Magazinen und Wochenzeitungen, schreibt vor allem Portraits, Reportagen und Kurzgeschichten. Seine Reisereportagen wurden ausgezeichnet. Zwischen 2017 und 2022 war er Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Kulturmagazins ERNST. Neben dem Schreiben und der Dramaturgie befasst sich Adrian Soller auch mit Improvisationstheater.